Egon Bahr über die "Berliner Republik": Eine fulminante Rede

Bei den Frankfurter Römerberggesprächen bilanzierte der 85-Jährige Bahr die "Berliner Republik". IG Metall-Vorstandmitgleid Hans-Jürgen Urban warb für Umverteilung.

Egon Bahr an seinem 85. Geburtstag im März dieses Jahres. Bild: dpa

Bei den 35. Römerberggesprächen in Frankfurt am Main standen Erfolge und Misserfolge der "Berliner Republik" zur Debatte. Während zweier Tage diskutierten Experten und Bürger, umsichtig moderiert von Matthias Arning (FR) und Alf Mentzer (HR), über Fragen, die alle angehen, wie man das Lateinische "res publica" (Republik) auch übersetzen könnte.

Der Urheber des Begriffs "Berliner Republik" ist nicht bekannt, aber große Verbreitung fand er, nachdem ihn Jürgen Habermas 1995 in einem Essay verwendet hatte. Der Begriff meint das Dilemma, dass sich das vereinigte Deutschland gleichzeitig zwei gegenläufigen Herausforderungen gegenüber gestellt sieht. Europäische Integration und wirtschaftliche Verflechtung verlangen nach einer Entnationalisierung, und gleichzeitig entstand 1989/90 ein Gebilde, das man mangels eines zutreffenden Begriffs immer noch Nationalstaat nennt.

In einem fulminanten, frei gehalten Vortrag präsentierte der 85-jährige Egon Bahr der Republik seine Bilanz. Sie fiel zwiespältig aus. Dem feinen politischen Riecher Helmut Kohls und seines Kanzleramtschefs Horst Teltschik ist es zu verdanken, dass in der heiklen Konstellation nach dem Fall der Mauer Bahr zufolge außenpolitisch keine Fehler gemacht wurden. Beharrlich in der Sache und verbindlich im Ton organisierte die Regierung zügig das Einverständnis der vier Mächte, das mit dem "Zwei-plus-vier-Vertrag" vom 12. 9. 1990 den Weg zur Einheit frei machte. Darin kamen die beiden deutschen Staaten und die vier Siegermächte überein, dass Deutschland fortan nach innen wie nach außen ein souveräner Staat sei.

Es war, wie Bahr betonte, eine "angebundene Souveränität", denn in Fragen der Sicherheit blieb die BRD fest in die Nato eingebunden, wobei Bush sen. Gorbatschow versprach, die Nato nicht über die Oder-Neiße-Grenze hinaus auszudehnen.

Bahr prognostizierte eine harte Krise, falls Bush jun. seinen Plan realisieren sollte, in Polen und in Tschechien Raketen zu stationieren. Um das zu verhindern, müsse sich die BRD mit der gesamten EU zu einer Kooperation - "das Schlüsselwort des 21. Jahrhunderts" (Bahr) - zusammenfinden, um das für Russland inakzeptable Vorhaben zu stoppen.

Für die deutsche Innenpolitik fiel Bahrs Bilanz dagegen schlecht aus. Da habe man "fast alles vergeigt" im Vertrauen darauf, die DM werde es schon richten. Die innere Vereinigung kennzeichnet eine Enteignungswelle und ein demütigendes Diktat, getragen von Verachtung für die Lebensläufe der Ostdeutschen. Auch der Umgang mit den Stasiakten verschlechterte das Klima, denn die Ostdeutschen fühlten sich fortan als "verseuchtes Volk" auf der Anklagebank.

Der Freiburger Zeithistoriker Ulrich Herbert wandte sich in seinem sehr profunden Referat gegen die Instrumentalisierung der Nazivergangenheit für allerlei politische Ziele und hofft für die Zukunft, dass die meistens unpassenden Nazi-Vergleiche und Nazi-Analogien an Plausibilität und oberflächlicher Attraktivität verlieren werden.

Herbert will weder Vergleichen die Legitimation absprechen, noch den Massenmord an den Juden "sakralisieren", sondern "aufklären". Schon die Rede von "den zwei Diktaturen" in Bezug auf die Ex-DDR mündet in Verhältnisblödsinn. Die SED-Diktatur hinterließ "keine Leichenberge, sondern Aktenberge" (Herbert). Dass schiefe Vergleiche keine deutsche Spezialität sind, zeigte der polnische Wissenschaftler Adam Krzeminski. Die polnische Angst, von Russland im Osten und von Deutschland im Westen in eine Zange zu geraten, müsse ernst genommen werden. Aber das erlaubt noch nicht die Gleichsetzung des Ölgeschäfts zwischen Putin und Schröder mit dem Hitler-Stalin-Pakt, wie dies polnische Konservative tun.

Am zweiten Tag ging es um den Zustand der Öffentlichkeit (Rahel Jaeggi), den "Anachronismus" Kulturnation (Sigrid Weigel) und den Umgang der Mehrheitsgesellschaft mit den Muslimen (Navid Kermani). Herausragend war die Abschlussveranstaltung mit dem Referat von Stefan Leibfried über den "Abschied vom (Sozial-)Staat?" und dem sich daran anschließenden Disput zwischen dem Unternehmer Ernst-Wilhelm Händler und Hans-Jürgen Urban - dem konzeptionellen Kopf im IG-Metall-Vorstand. Mit klaren Worten wies Urban auf die zentralen Probleme hin: Erstens leidet die EU mangels tragfähiger Legitimationsgrundlagen an einem Demokratiedefizit. Und zweitens bedarf der Sozialstaat eines grundlegenden Umbaus. Statt auf Wirtschaftswachstum, lebenslanger Erwerbsarbeit und fossilen Energieträgern sollte das neue Wohlfahrtsmodell auf die Förderung von Bildung und anderer öffentlicher Güter umgestellt werden. Das geht - nach nordeuropäischem Vorbild - nur mit Steuerfinanzierung und Umverteilung sowie einer europaweiten Mobilisierung der Gesellschaften für das neue Sozialstaatsmodell. Jeder nationale Alleingang führt dagegen in die Sackgasse.

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