Mythos Atatürk in der Türkei : Kemal Süperstar

Die Türkische Republik wird 85 Jahre, gefeiert wird vor allem einer: Mustafa Kemal Atatürk. Er war ein Freidenker, aber auch rücksichtslos. Warum wird er heute noch so verehrt?

Mustafa Kemal Atatürk liebte die Frauen und den Anissschnaps. Bild: dpa

Für die einen ist er der große Vater des Landes, für die anderen hat er es ins Verderben geführt. Die Türken lieben oder hassen ihn. Er wird verehrt wie ein Heiliger und verdammt wie der Erfinder alles Bösen. Doch selbst die neuen radikalen Islamisten respektieren ihn als Feind, statt ihn wie George W. Bush oder Silvio Berlusconi zu verachten. Es wäre auch wenig ratsam, Mustafa Kemal Atatürk öffentlich anzuprangern. Bis heute steht jede herabwürdigende Äußerung über seine Person unter Strafe.

Zensur: Paragraf 5816, Artikel 1 im türkischen Recht stellt klar, wer Atatürks Andenken öffentlich beleidigt oder verunglimpft, muss mit einer ein bis dreijährigen Gefängnisstrafe rechnen.

Folgen: Diese rechtliche Regelung führte bereits dazu, dass Richter in der Türkei zeitweise die Internet Plattform "YouTube" sperren ließen. Ein 2007 erlassenes neues Internet-Gesetz schaffte dafür die Grundlage. Die Aufreger mit Sperr-Folgen: nicht genehme Videomontagen, in der Atatürk grell geschminkt, bauchtanzend in der Unterhose, suggestiv schwul für den Richter-Geschmack alles andere als staatsmännisch, elegant und erhaben daherkam.

Obwohl sich die islamischen Hardliner seit den Siebzigerjahren in der Türkei vermehren wie Grippeviren - in keinem Land wurde und wird ein Staatsmann der Geschichte so auf den Schild gehoben. Und nicht nur hier. Frank D. Roosevelt, US-Präsident, sagte nach Atatürks Tod im November 1938: "Leider habe ich nun nicht mehr die Möglichkeit, diesen Mann kennen zu lernen, was ich seit langen immer tun wollte." Und Winston Churchill, britischer Premierminister, der Atatürk 1915 noch zum barbarischen Räuberhauptmann gestempelt hatte, bekundete mitleidsvoll: "Die Tränen, die das gesamte Volk um ihn vergießt, sind nichts als Beifall für diesen großen Helden und Vater der Türkei." Atatürk war, daran besteht kein Zweifel, einer der größten Staatsmänner des 20. Jahrhunderts.

Als General hat er übermächtige Gegner besiegt - so etwa 1915 den Kriegsminister Churchill beim Angriff auf die Dardanellen. Als Regent krempelte er ein ganzes Land um, wie das keine französische oder russische Revolution vermochte: Er sorgte für die Abschaffung des Kalifats und die strikte Trennung von Religion und Staat. Die islamische Zeitrechnung wurde durch den Gregorianischen Kalender abgelöst, obwohl dieser christlichen Ursprungs ist. Fortan galt der arbeitsfreie Sonntag, anstelle des heiligen muslimischen Freitags. Das metrische System wurde übernommen und die osmanische Hochsprache in lateinischer Schrift eingeführt. Die Türkei bekam eine neue Rechtsordnung, beruhend auf deutschen, italienischen und schweizerischen Rechtsformen. Das Namensrecht wurde gesetzlich verankert (bis 1934 hatten türkische Bürger keinen Nachnamen). Religionsschulen wurden geschlossen und die allgemeine Schulpflicht eingeführt.

Und schließlich setzte er sein größtes Anliegen durch: die Gleichstellung von Mann und Frau. Ab 1926 durften Frauen höhere Schulen und Universitäten besuchen. Sie bekamen das Recht zu wählen. Erst auf kommunaler Ebene. Dann auch national, also das Parlament. Und sie mussten beziehungsweise durften keine Schleier mehr tragen. Die große Koalition in Berlin würde für ähnlich umwälzende Reformen drei Jahrhunderte brauchen. Nicht alle Veränderungen wurden widerspruchslos hingenommen. Als Atatürk den Männern das Tragen des Fes verbot und Hüte vorschrieb, kam es in Ostanatolien zu einer "Hutrevolution" und 138 Todesurteile gegen rebellische Fes-Anhänger. Bei der Durchsetzung seiner Ideen war Atatürk alles andere als zimperlich. Der Reformer blieb zeitlebens General. 1922 ließ er nach seinem Sieg über die Griechen in Izmir ein grausames Blutbad geschehen. Und 14 Jahre später ging er brutal gegen die von ihm selbst geförderte Oppositionspartei vor.

Um ihn zu verstehen, müssen wir uns seinen Werdegang ansehen. Er wurde 1881 in Saloniki geboren (heute Thessaloniki) und lebte dort bis 1895. Die Hafenstadt gehörte zwar zur Türkei, war aber westlich geprägt: Ein buntes Gemisch aus Griechen, Franzosen, Engländern und anderen Europäern, aus Türken, Juden, Arabern und zwanzig weiteren Volksgruppen. Der junge Mustafa, so sein Vorname, war fasziniert von der Lebens- und Denkweise der Europäer. Gegen den Wunsch seiner Mutter ging er nicht auf eine Koranschule, sondern auf die weltliche des Schemsi Efendi, wo er den Beinamen Kemal (der Vollkommene) erhielt. 1893 wechselte er auf die Militärschule. Auch gegen den Wunsch der Mutter. Fast noch wichtiger für seine Hinwendung zum Westen war der Besuch der Militärakademie (1902-1905). Hier musste er Französisch lernen, die damalige Weltsprache. So fand er Zugang zu den literarischen Vätern der Französischen Revolution, ihren Ideen und Visionen. Gleichzeitig kam er in Kontakt mit den "Jungen Osmanen", die den "kranken Mann am Bosporus" vom Despotismus befreien wollten, aber bald dem Größenwahn verfielen.

Schon zu dieser Zeit hatte Mustafa Kemal ein klares Bild von einer neuen, lebensfähigen Türkei: "Das Sultanat muss zerstört werden. Wir müssen uns der östlichen Zivilisation entziehen und der westlichen zuwenden. Religion und Staat müssen voneinander getrennt werden." Mit diesen Ideen machte er sich immer wieder Feinde. Vor allem nachdem er 1912 in den Generalstab aufgestiegen war. Sein größter Widersacher, der General und zeitweilige Kriegsminister Enver Pascha, träumte von der Wiedergeburt des Osmanischen Reiches und glaubte, als Verbündeter Deutschlands im Ersten Weltkrieg diesen Traum verwirklichen zu können. Mustafa aber misstraute den Deutschen genauso wie später den Russen, die sich als Verbündete anboten. Gleichzeitig hatte er eine fast prophetische Gabe bei der Einschätzung der politischen Lage Europas. Hitler hielt er für verrückt, Stalin für hochgefährlich. Über Mussolini sagte er: "Eines Tages wird er vom eigenen Volk aufgehängt werden." Er sah den Zweiten Weltkrieg voraus, den Untergang des Naziregimes und den Aufstieg des kommunistischen Russland.

Tatsächlich gab es zwei Mustafa Kemals: den analytischen und eiskalten, der rücksichtslos gegen alle vorging, die sich ihm in den Weg stellten. Und den emotionalen, den Visionär, der seine Türkei liebte und sogar ihre größten Feinde, die Griechen, als Kulturvolk schätzte. Der "weiche" Kemal suchte gern und oft die Nähe von Frauen, was ihm bigotte Kritiker bis heute als Promiskuität vorwerfen. Tatsächlich waren Frauen für ihn gleichbedeutend mit einer anderen, humanen Welt. Ohne Lügen und Intrigen, ohne Geschützdonner und Größenwahn. Bei den Frauen fühlte er sich frei. Dieses Gefühl der Freiheit war auch der Grund, warum er - abgesehen von der zweieinhalbjährigen Ehe mit Lative - jede Bindung vermied. Die Wärme, die Geborgenheit und das Glück, das er bei den Frauen fand, dankte er ihnen mit den größten Geschenk, das er ihnen machen konnte: die Befreiung vom Kalifat und damit vom Joch eines falsch verstandenen Islam.

Eine weitere Tatsache - die gerne unter den Teppich gekehrt wird - ist, dass der türkische Anisschnaps den Vater der Türken mit 57 Jahren ins Grab brachte. Doch bis Ende 1936, als er die Kontrolle über seinen Alkoholkonsum verlor, war ihm der Raki Antrieb und Inspiration gewesen. Er konnte mit dem Gesöff umgehen, wusste um seine positive und gefährliche Wirkung. Dass sich die für ihn heilsame Droge in eine tödliche verwandeln würde, war abzusehen. Atatürk hatte sein Lebenswerk vollendet. Doch es wollte nicht greifen. Armenier und Kurden lehnten die neue gottlose Türkei genauso ab wie die alte und erhoben sich mit Terrorakten gegen das Militär. Atatürk befahl gnadenloses Vorgehen gegen die Kurden und Armenier. Dutzende von Aufrührern ließ er aufknüpfen. Zugleich wurde ihm bewusst, dass er das Land noch zehn bis fünfzehn Jahre diktatorisch würde regieren müssen, um seine Reformpolitik durchzubringen und den Weg in eine Demokratie zu ebnen. Er war aber kein Hitler oder Stalin und es widerstrebte ihm, sein Land zu knebeln und knechten. Die Folge waren tiefe Resignation und willenlose Hinwendung zum Alkohol.

Heute wäre Atatürk aufgrund seiner Persönlichkeit, seiner Ausstrahlung und seines scharfen Verstands ein absoluter Medienstar, vor allem im westlichen Europa. Angela Merkel und Nicolas Sarcozy könnten seiner Klugheit nur mit europäischen Luftblasen begegnen. Und der amtierende Ministerpräsident der Türkei, Recep Tayyip Erdogan, wäre gegen ihn blass wie die Terrassen von Pamukkale. In Erdogans islamischer Mauerwelt kann ein westlich orientierter Freidenker wie Atatürk nur Hassobjekt sein. Nicht umsonst nennt der AKP-Mann (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) die Assimilation türkischer Einwanderer in Deutschland ein "Verbrechen gegen die Menschlichkeit". Nur wären er und seine AKP 2007 nie gewählt worden. Es gäbe keine (fast) freien Wahlen in der Türkei. Sondern immer noch Verhältnisse wie Ende des 19. Jahrhunderts. Oder wie im heutigen Iran. Atatürk hätte Erdogan ohnehin nach Nordkorea ausgewiesen.

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