Philosoph Nusseibeh über Palästinakonflikt: "Wir können ihren Willen nicht brechen"

Der palästinensische Philosoph und Publizist Sari Nusseibeh über die Aussichten auf Frieden in Nahost, Strategien des gewaltfreien Widerstands und die Selbstmordattentate der Hamas.

"Im Moment möchten die Leute lieber getrennte Wege gehen." Bild: ap

taz: Herr Nusseibeh, die Friedensgespräche zwischen Israel und den Palästinensern stehen mal wieder auf der Kippe. Sehen Sie auf israelischer Seite überhaupt noch einen Partner für den Frieden?

Sari Nusseibeh: Sie werden überrascht sein. Aber ich glaube, dass es auf beiden Seiten eine grundsätzliche Bereitschaft zum Frieden gibt - allen Extremisten zum Trotz.

Manche hofften, eine rechte Regierung wäre eher in der Lage, schmerzhafte Kompromisse zu schließen. Danach sieht es im Moment aber nicht aus.

Nein, das stimmt. Israels Außenminister Lieberman hat vorgeschlagen, Gaza an Ägypten zu geben und Teile der Westbank nach Jordanien. Aber das sind nur Versuche, vor der Realität zu flüchten. Diese Realität ist, dass sich Juden und Araber um das gleiche Stück Land streiten. Entweder teilen sie es unter sich auf - das läuft auf eine Zweistaatenlösung hinaus -, oder sie teilen sich die politischen Rechte in einem gemeinsamen Staat. Es gibt nur diese beiden Möglichkeiten.

So zersiedelt, wie das Westjordanland heute ist: Läge ein gemeinsamer Staat nicht näher?

Im Moment möchten die Leute lieber getrennte Wege gehen. Aber ich glaube, dass sich das durchaus ändern kann - weil es auf beiden Seiten die Bereitschaft gibt, auch in einem gemeinsamen Land zu leben.

Die jüdischen Siedler hätten sicher gern das ganze Land, aber ohne Palästinenser …

Na klar. Und viele Palästinenser hätten auch gern das ganze Land, nur ohne Juden.

Der Politische: Sari Nusseibeh, 61, ist ein palästinensische Philosoph, Politiker und Publizist. Seit 1995 leitet er die arabische Al-Kuds-Universität in Ostjerusalem. Von 1988 bis 1991, zur Zeit der Ersten Intifada, gehörte er dem Leitungsgremium der PLO an, später überwarf er sich mit Jassir Arafat. Zusammen mit dem israelischen Exgeheimdienstchef Ami Ajalon legte er im 2003 einen Friedensplan vor, der die Grundzüge einer künftigen Zweistaatenlösung benannte.

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Der Private: Sari Nusseibeh ist mit der Engländerin Lucy Austin verheiratet und hat drei Söhne und eine Tochter. Vor zwei Jahren erschien seine Autobiografie "Es war einmal ein Land. Ein Leben in Palästina" im Suhrkamp Verlag. Sie bildet das literarische Gegenstück zu Amos Oz Biografie "Eine Geschichte von Liebe und Finsternis".

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Der Literaturpreis: Am 28.9.2010 erhält Sari Nusseibeh gemeinsam mit Amos Oz in Berlin den Siegfried-Unseld-Preis, eine Literaturauszeichnung. Der mit 50.000 Euro dotierte Preis wird immer an Siegfried Unselds Geburtstag, dem 28. September, übergeben.

Sie meinen die Hamas?

Die Hamas will Israel nicht anerkennen und die Waffen nicht niederlegen. Sie glauben nicht an Verhandlungen und sind überzeugt, ihren Kampf noch eine Weile führen zu können.

Auch nach dem desaströsen Gazakrieg?

Ja. Allein, dass sie dem Druck standhalten und ausharren, verbuchen sie bereits als Erfolg für sich. Und Israel hat mit diesem Krieg ja auch nichts erreicht.

Der gewaltsame Widerstand gegen Israel ist das Markenzeichen der Hamas. Warum ist diese Idee unter Palästinensern noch immer populär?

Die Idee, politische Ziele gewaltsam durchzusetzen, ist auf der ganzen Welt populär, auch in Europa, den USA und anderswo. Meiner Meinung nach führt Gewalt aber zu gar nichts, wie man gerade am Nahostkonflikt sehen kann. Denn obwohl Israel eine Nuklearmacht und all diese Flugzeuge und Panzer besitzt, konnte es unseren Willen nicht brechen. Genauso wenig können wir ihren Willen brechen.

Warum gibt es keinen palästinensischen Ghandi oder Martin Luther King?

Gewaltlosigkeit war immer ein Teil des palästinensischen Widerstands und hat eine lange Tradition, die bis in die Zwanzigerjahre zurückgeht. Aber neben diesem zivilen Widerstand haben Palästinenser immer auch zu den Waffen gegriffen. Das hat den gewaltfreien Widerstand geschwächt. Denn gewaltfreier Widerstand muss exklusiv sein: Man kann nicht in der einen Hand eine weiße Fahne schwenken und mit der anderen Hand zur Waffe greifen.

Weshalb hat sich das Prinzip der Gewaltlosigkeit nie richtig durchgesetzt?

Gewaltlosigkeit funktioniert nicht in jeder Situation. Der berühmte dreijährige Streik in den Zwanzigerjahren etwa war ein Desaster. In der ersten Intifada dagegen ging diese Strategie auf. Erstens, weil es ein klares Ziel gab: einen eigenen Staat und Unabhängigkeit von Israel. Und zweitens herrschten die Israelis direkt über uns: Wir zahlten ihnen Steuern und arbeiteten für sie, sie stellten uns Genehmigungen aus.

Heute ist die Situation eine andere: Wir zahlen unsere Steuern an die Palästinensische Autonomiebehörde, die Israelis herrschen nur noch indirekt über uns. Früher musste man sich nur weigern, seine Steuern zu zahlen oder der Zivilverwaltung zu dienen. Aber als die Palästinenser im Jahr 2000 gegen Israel demonstrieren wollten, mussten sie aus Ramallah rausgehen bis an die Straßensperren, wo sie mit den israelischen Soldaten zusammenstießen.

Die Stadt Bil'in im Westjordanland wehrt sich seit Jahren dagegen, von Israels Trennmauer durchschnitten zu werden. Ist das ein Vorbild für gewaltfreien Widerstand?

Bil'in ist zu einer Art Mythos geworden. Aber die Proteste dort sind nicht immer friedlich, und sie hatten bisher leider auch nur bescheidenen Erfolg.

Wo hat sich gewaltfreier Widerstand Ihrer Meinung nach bewährt?

In den israelischen Gefängnissen. Weil sie sich andere Mittel ausdenken mussten, um ihre Ziele zu erreichen, sind viele Palästinenser in der Haft zu Advokaten des gewaltfreien Widerstands geworden. Das hat zurückgewirkt in die palästinensische Nationalbewegung.

Was war der größte Fehler, den die Palästinenser begangen haben? War es der halbgare Friedensvertrag von Oslo? Oder die zweite Intifada mit ihren Selbstmordattentaten?

Wir haben viele Fehler gemacht, einen nach dem anderen. Oslo gehört aber meiner Meinung nach nicht dazu. Es war eine gute Sache, die PLO an den Tisch zu bekommen. Die Fehler kamen später: dass wir, Israelis wie Palästinenser, die Chance von Oslo nicht ergriffen haben. Dagegen habe ich von Anfang gesagt, dass die Selbstmordattentate der Zweiten Intifada nicht nur moralisch verwerflich, sondern auch ein schwerer politischer Fehler waren. Ich konnte darin keine Vision und keinen Sinn erkennen. Und mir war klar, dass Ariel Scharon die Gewalt nutzen würde, um seinen Sicherheitszaun weit hinein in palästinensisches Gebiet zu errichten.

Haben Hamas und andere wirklich geglaubt, Israel damit in die Knie zwingen zu können?

Die Leute, die diese Selbstmordattentäter geschickt haben, hofften natürlich, dadurch an politischem Einfluss gewinnen zu können. Natürlich ist es unmoralisch, so etwas zu tun. Aber wenn man sich im Krieg befindet und das die einzige Waffe ist, die dir zur Verfügung steht, dann bleibt dir keine große Wahl. Und ist das schlimmer als das Flächenbombardement, mit dem die USA die Zivilbevölkerung in Vietnam und in anderen Orten der Welt terrorisiert hat? Ich lehne jedenfalls beides ab.

Warum haben so wenig Palästinenser diese Attentate so offen kritisiert, wie Sie das getan haben?

Als es mit diesen Selbstmordattentaten losging, habe ich sofort 30 bis 40 Meinungsführer und Politiker kontaktiert. Und alle von ihnen haben, ohne zu zögern, ihren Namen unter einen offenen Brief gesetzt, der diese Attentate verurteilt hat und in unseren Zeitungen veröffentlicht wurde. Wir haben uns da nicht versteckt. Aber im Krieg ist es oft so, dass die Stimmen der Vernunft übertönt werden.

Viele Palästinenser haben zu den blutigen Selbstmordattentaten geschwiegen. Man könnte das auch als Zustimmung deuten.

Glauben Sie nicht, dass die Palästinenser so viel anders sind als die Menschen hier in Europa. Wenn sich hier auf der Straße eine Gewalttat ereignet, werden die einen wegsehen oder einen anderen Weg einschlagen. Andere versuchen einzugreifen und die Gewalt zu stoppen. Menschen, die sich in so einer Situation zurückziehen, müssen die Gewalt nicht notwendigerweise gutheißen. Sie haben nur das Gefühl, dass es außerhalb ihrer Macht steht, etwas dagegen zu tun. Schweigen ist auch ein Zeichen der Resignation.

Die Palästinensische Autonomiebehörde im Westjordanland macht die Arbeit für Israel, hält die Hamas in Schach, und der Westen finanziert sie dafür. Wäre es nicht besser, die Autonomiebehörde aufzulösen?

Unsere Partnerschaft mit der internationalen Gemeinschaft dient dazu, die Palästinenser für die kommenden Jahre so weit wie möglich vor weiterem Siedlungsbau und weiterer Landnahme, vor extremistischer Gewalt oder gar Vertreibungen zu schützen. Das muss unser Ziel sein.

Ein sehr defensives Ziel.

Ja, aber wir leben auch in einer sehr schwierigen Situation und sind sehr verletzlich. Wenn wir nach Israel schauen, dann wächst dort der Extremismus. Deshalb muss es unser Ziel sein, uns dagegen zu schützen.

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