"Feuchtgebiete" auf der Bühne: Die große Tourette-Lawine

In Halle (Saale) werden die "Feuchtgebiete" zahm durchkunstet. Der Skandal bleibt aus. Lässt sich der Osten von nichts schockieren oder ist der Westen zu verklemmt?

Literarische Adaptionen können rutschig werden: "Feuchtgebiete" im Theater. Bild: dpa

Wenn "Muschischleim" nicht zum Wort des Jahres 2008 gewählt wird, dann weiß ich auch nicht mehr. Wo jetzt sogar die Bild-Zeitung schon groß berichtet, dass "am Wochenende das Bühnenstück zum Aufreger des Jahres Premiere" feierte. Ein halbes Jahr ist der amüsante Pseudoroman um eine noch recht jugendliche Proktologiepatientin jetzt der offizielle Aufreger der Nation, quasi genauso lange residiert sein pinkes Softcover mit dem 3-D-Pflaster auf dem Spitzenplatz der Bestsellerlisten.

Über die Verkaufszahlen unterrichten Feuilletons und Boulevard regelmäßig, aber bitte: Es sind momentan "über eine Million", verlautbart der Verlag ein wenig heimlichtuerisch über sein Goldeselchen. Daniel Kehlmann hat mit seiner Weltvermessung in drei Jahren auch nicht mehr als 1,6 Millionen geschafft. Den kriegst du noch, Charlotte!

Jetzt also das Stück zum Buch. Im Neuen Theater in Halle an der Saale. Ein kleines Theater mit noch kleinerem Budget, eine noch relativ unbekannte Regisseurin, sieben blutjunge Schauspieler. Aber zur Premiere Medienanfragen bis dorthinaus. Und ein ausverkauftes Haus bis in den Dezember hinein, noch vor der ersten Vorstellung. Das knallt, das ist ein Glücksding für alle Beteiligten.

Nur Charlotte Roche ist es egal. Als das Theater, terminlich auf Zack, schon im April wegen der Aufführungsrechte anfragte, sagten Verlag und Autorin gleich ja und gaben Halle exklusive sechs Wochen ab der Premiere. Ganz ohne Auflagen für Regisseurin Christina Friedrich und Dramaturgin Maria Linke. Frau Roche hat weder Manuskript noch Proben sehen wollen, noch nicht mal zur Premiere ist sie gekommen, obwohl sie einen Abend vorher in Halle eine Lesung hatte.

Vielleicht ahnte sie, was werden würde. Nämlich aus ihrer Helen Memel eine "Alice im Wundenland", ein Stück als eine "wilde und traurige Phantasie", als ein "Dialog mit der Wunde", ein künstlerisch wertvolles, tiefschwarzes Impromptu über Sex als "andere Form, sich einen schönen und rasenden Schmerz zuzufügen" (sämtliche Zitate aus dem Begleittext der Regisseurin). Weil frau ja, so psychologisch betrachtet, gern mal nach der Wiederholung des Schmerzes dürstet, wenn ihr schon mal Schmerzvolles passiert ist, im Fall von Helen Memel: Scheidung der Eltern, Selbstmordversuch der Mutter. Puh.

Auf jeden Fall erklärt die Hallesche Theaterfassung Helens ungebremste körperliche Untersuchungslust einfach weg durch folgende Konstruktion: Problemjugendliche kanalisiert ihre Harmoniesehnsucht irgendwie falsch. Steht so im Ansatz auch schon bei Roche, aber anders gewichtet. In Halle also gibt es eine wiewohl sympathisch und beherzt gespielte Introspektion in die Seele eines verzweifelten, verkorksten, nah am Wasser gebauten Mädchens zu sehen, amtlich dekoriert mit den Rocheschen Motiven: Krankenhauslaken, Zimmerkreuz, Avocadokerne. Und, ja, auch mit ein bisschen Kunstblut, Milchsperma, ein, zwei Händen in der Unterhose und einem ganzen nackten Männerpopo. Aber alles zahm durchkunstet - und eben viel zu dramatisch.

Während der N24-Reporter nach der Premiere versuchte, den wenigen echten Theaterbesuchern, die keine Medienkollegen waren, ein paar schockierte Worte aus der Nase zu ziehen ("Und, verstehen Sie die Frauen jetzt besser?"), resümierte eine fesche 50-Jährige dem MDR-Kamerateam: "War doch gar nicht schlimm!" Laut Stadtmagazin Frizz erachtet ein Hallenser aber auch selten etwas als schlimm, weil er nämlich "bekanntermaßen weder zu Prüderie noch zu Ohnmachtsanfällen neigt". Womit sich eine steile These bezüglich des allseits bestaunten "Feuchtgebiete"-Erfolgs zumindest für die östlichen Bundesländer formulieren ließe: Helens Enddarmreinigungsmethoden schockieren? Aber bitte, doch höchstens den Klemmi-Westen! Power-Roche-Konsum ist für den ehemaligen DDR-Bürger möglicherweise eine offensive Zurschaustellung von Ostseestrand-FKK-Relaxtheit, eine Selbstbehauptung.

Aber auch angereisten Klemmis bietet die Inszenierung noch eine These zur Selbsterkenntnis. In einer einzigen richtig guten, vom großen Kreuzesweg der Helen Memel abstrahierenden Szene, in der nämlich einfach nur Wörter gesagt werden. Böse-Wörter-Ketten. Erst sagt Helen sie noch für sich, dann fallen die anderen Schauspieler ein, erst verschämt glucksend, dann immer begeisterter, bis sich dann eine große Tourette-Lawine entlädt: Schwanz! Schamlippen! Arschloch! Scheide! Ficken! Muschischleim! Da wird den aufgeklärten Literatur- und Theaterkonsumenten kurz und prägnant vor Augen geführt, in was für eine Falle sie mit dem rosaroten Hype vielleicht getreten ist. Nämlich in die, als ewig pubertierende vorgeführt zu werden, begierig nach triebstaulösender Katharsis, die andere für einen exekutieren. Auch wenn es im Saal erleichtert kicherte - ist das nicht mittlerweile alles entsetzlich langweilig?

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.