"Faust" in Weimar: Dualer Erkenntnisekel

Zweimal Seelenpein in einer Brust: Der "Faust" in Weimar ist für Regisseure eine harte Prüfung. Jungstar Tilmann Köhler versucht es mit Formstrenge.

Von Männern in merkwürdigen Hosen: "Faust" in Weimar. Bild: dpa

In der einen Hand hat sie das Reclamheft, mit der anderen streicht die ältere Dame im schulterlosen Miederkleid gedankenversunken über den Vorhang, der schon für so viele "Fäuste" hochgegangen ist. Lange gleitet ihr Blick stumm durch die Zuschauerreihen des Weimarer Nationaltheaters. Dann feuert Rosemarie Deibel, die hier 1961 das Gretchen war, das Büchelchen hin und spricht Goethes Zueignung mit aller aufzubietenden Inbrunst.

Hausregisseur Tilmann Köhler weiß, dass er gerade diesmal das Publikum umwerben muss. Für den hoch gehandelten Regie-Jungspund (Jahrgang 1979), der im vergangenen Jahr zum Berliner Theatertreffen mit Bruckners "Krankheit der Jugend" eingeladen war, liegt die Latte doppelt hoch. Und der "Faust"-Erwartungsdruck ist ohnehin enorm in dieser Stadt, in der viele Zuschauer den Text mitsprechen können und es auch tun. Alle Zeichen stehen also auf Überforderung. Köhler, der auf der Weimarer Nebenspielstätte im E-Werk bereits die Vorstudie "Höllenfahrt des Doktor Faustus" herausbrachte, ist klug genug, all dies mitspielen zu lassen. Das gelbe Heftchen wird als ",Neues Testament" geschwungen, immer wieder daraus vorgelesen und der Handel um Fausts Seele zu einem zwischen Mephisto und dem Publikum erweitert: "den sollt ihr noch verlieren".

Doch die Geste, mit der Köhler anfangs die Textvorlage hinpfeffern lässt, verspricht mehr, als die Inszenierung halten kann. Von einem bahnbrechend neuem Zugriff kann man nicht sprechen. Die wohlbekannten Strukturprinzipien des Zwei-Seelen-in-einer-Brust-Stückes übersetzt Köhler in eine deutliche Formsprache: Mit Stufen, die für Menschenschritte zu groß geraten sind, führt der Bühnenbildner Karoly Risz eine schwarze Riesentreppe von der Rampe bis in den Schnürboden, von der Hölle zum Himmel, von der kleinen zur großen Welt. Ebenfalls dualistisch: in Schwarz die Männer (strumpfbehost), in Weiß die Frauen (miederbekleidet). Dazu kommen Effekte mit Licht und Schatten sowie akustisch die Orgeltonleiter rauf und runter.

Die Zweiheit ist auch für die Figuren Programm. Ein doppeltes Gretchen, bei dem das eine spielt, was das andere spricht, wobei zwischen Antje Trautmann und Ina Piontek herzwarme Mädchenhaftigkeit entsteht. Aber oje, was für ein Frauenbild ist das! Und Köhler besetzt Faust und Mephisto über Kreuz als Spiegelgestalten: Da in seinem jungen Schauspielerkollektiv, das mit ihm von der Schauspielschule aus Berlin nach Weimar kam, niemand verjüngt werden muss, wechseln Thomas Braungardt und Matthias Reichwald in der Hexenküche, in der Faust, der Verliebte, sonst sein Gelehrtenalter abzustreifen sucht, mit der roten Hose Rollen und Bosheitsgrad. Der wuchtige Reichwald nimmt seinen heftig stampfenden Teufelsschritt ebenso wie den Machertonfall dabei mit ins sinnliche Faust-Vergnügen, während Braungardt vom dürrgliedrigen Selbstmordkandidaten zum spillerigen Schnellsprechmephisto mutiert. Sein Faust war übrigens schon am Anfang der dreieinhalb Aufführungsstunden völlig am Ende, ohne sich erst mühsam durch alle Fakultäten studiert zu haben. Der Doktorumhang ist diesem Nichtgelahrten viel zu groß, sein "Habe nun ach", wie so manch zitatstarrer Vers, kassiert. Die existenzielle Erkenntnis-Verzweiflung, von Braungardt gänzlich ironiefrei aus der schmalen Brust gespielt, scheint der nackten Kreatur (nur in schwarzer Unterhose) gleichsam angeboren - Seelenpein als anthropologische Konstante.

Das Problem, das dieser "arme Tropf" mit den Schriften hat, ist hauptsächlich eins der Textvorlage, die er unter wütender Beteuerung, er wolle nicht mehr "in Worten kramen", gründlich zerrauft. Diesem Faust scheint vorm eigenen Skript zu ekeln, als sei er am vorgeschriebenen Text irr geworden. Eine interessante Deutung, wenn sie durchgehalten würde. Auch der Regisseur ringt voll heißen Bemühens mit der Dramenreliquie. Spielerische Leichtigkeit scheint da selten durch, obwohl Köhler ideenreich mit den Theatermitteln hantiert und wirklich große, ikonenhafte Bilder baut, Braungardts Faust gar die Kreuzigungspose erlaubt.

Engel-, Geister- und Hexenszenen zerstäubt er raffiniert in Chor- und Wechselgesang, und die Sängerin Orie Takada koloriert zusätzlich die Atmosphäre. Aber die einzelnen Resultate des Einfalls-Brainstormings lassen sich kaum schlüssig zu einer Linie oder Gesamtdeutung verknüpfen - zu viele Ungereimtheiten für eine konsequente Dramaturgie. Formal hat Köhler einen Dualcore-Faust angelegt - die Inszenierung jedoch läuft eher mit Sparstrom. Die mitreißende Energie, mit der die jungen Antihelden in Bruckners "Krankheit der Jugend" durchs Bühnenbassin rasten, fehlt hier. Vielleicht, dass zu viel davon in den Willen, hier unbedingt alles richtig zu machen, investiert wurde.

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