Elitäres Kulturereignis RuhrTriennale: Martern aller Art

Die RuhrTriennale hat sich etabliert und hohe Erwartungen geschaffen. Mit Uraufführungen des flämischen Regisseurs Johan Simons und des Choreografen Alain Platel ging sie an den Start.

Szene aus "Vergessene Straße", nach einem Roman Louis Paul Boon, in der Regie von Johan Simons. Bild: dpa

Im 21. Jahrhundert kennt der Kulturbetrieb keine Pausen mehr: Kaum sind die großen Sommerfestivals vorbei, überstürzen sich die ersten Herbstereignisse. So musste sich Jürgen Flimm jüngst zweiteilen, denn als die von ihm verantwortete RuhrTriennale Ende August begann, bogen die gleichfalls von ihm geleiteten Salzburger Festspiele erst auf die Zielgerade ein.

Die RuhrTriennale hat sich in ihrem siebten Jahr als Hochkulturereignis etabliert und ein Stammpublikum erobert. Während in Salzburg blau gefärbte Society-Ladys auf dem roten Teppich mit ihren Roben rascheln, erscheint das Triennale-Publikum im lässigen Understatement gedeckter Designerware. Bei den Premieren trifft sich eine exklusive Mischung aus Prominenz, Kulturpolitik, Wirtschaft und Theaterszene.

Mit Fotos von Arbeiterinterieurs warb weiland der Gründungsintendant Gerard Mortier und wollte abseits der etablierten Musentempel ein neues Publikum gewinnen und die Pott-Einheimischen mit Kultur bereichern. Tatsächlich ist die RuhrTriennale trotz moderater Preise aber ein elitäres Festival geworden und seiner Einzigartigkeit inzwischen eine Spur zu sicher.

"Aus der Fremde" lautet das diesjährige Festivalmotto, das Marie Zimmermann ersann, aber durch ihren Freitod im Frühjahr 2007 nicht mehr umsetzen konnte. Zimmermanns unfertige Pläne mussten zwangsläufig mit Flimmscher Routine aufgefüttert werden. So ist dieser Jahrgang ein Zwitter: mit Konstanten im Experimentellen und edler Markenware im "Werk"-Bereich, der in diesem Jahr Regiealtmeiser Luc Bondy gewidmet ist. Bondys Programm begann mit einem Gastspiel des Wiener Burgtheaters: Sein "König Lear" ist großes Schauspielertheater von höchster handwerklicher Präzision und ruht solide auf erprobter Theaterkonvention.

Seit sieben Jahren gehört der flämische Regisseur Johan Simons zu den künstlerischen Säulen des Triennale-Programms, diesmal erzählt er mit der Uraufführung "Vergessene Straße" die Geschichte einer gesellschaftlichen Laborsituation: Für den Bau einer Nord-Süd-Trasse wird eine kleine Straße stillgelegt. Durch eine Betonmauer abgeriegelt, sind ihre Bewohner von der Welt abgeschnitten und ihrer Existenzgrundlagen beraubt. Der Roman des "flämischen Balzac" Louis Paul Boon von 1946, der als Vorlage des Stücks diente, könnte heute in einer vom Zechensterben betroffenen Straße zwischen Gelsenkirchen und Essen spielen.

Auf einem 45 Meter langen Bühnensteg, flankiert von zwei Zuschauertribünen geistern Figuren mit dicken Pappmaché-Köpfen umher, die sich in der Ghetto-Situation zusammenraufen und wieder vereinzeln. Aus ihrer stillen Verzweiflung heraus versuchen sie sich vergebens an einer gesellschaftlichen Utopie zwischen Anarchie und Genossenschaft; eine dreiköpfige Blaskapelle spielt träge Weisen dazu. Ein verhaltener, intensiver Abend von spröder Melancholie, der keine Lösung anbietet.

Mit noch größerer Spannung wurde die neue Arbeit des Choreografen Alain Platel erwartet, der wie Simons zur den Pionieren der Triennale gehört. Nach dem furiosen Mozart-Abend "Wolf" erschütterte vor zwei Jahren Platels existenzielle, den Qualen des Sisyphos nachempfundene Monteverdi-Adaption "VSPRS". Nun aber wagt er sich an das Heiligtum der abendländischen Musikgeschichte schlechthin: an Johann Sebastian Bachs "Matthäuspassion". Man erwartete dementsprechend Großes, die Stimmung in der Jahrhunderthalle Bochum war getragen von ehrfürchtiger Andacht.

Tatsächlich erreicht "pitié! Erbarme Dich!" die Wucht des Monteverdi-Abends nicht, denn das Episodenhafte von Platels Konzept wirkt hier trotz großer Einzelmomente oftmals beliebig, ja ausweichend. Die Alt-Arie "Erbarme Dich" stellen Platel und sein musikalisches Alter Ego Fabrizio Cassol in den Mittelpunkt und kreisen um die heiklen Themen des Mitleidens und Erbarmens. Die lockeren Szenenfolgen ohne klare Rollenzuordnung sollen die in der Passion vernachlässigte Dreiecksbeziehung zwischen Mutter und Sohn und Sünderin, also zwischen Maria, Jesus und Maria Magdalena thematisieren.

Auf der Bühne bleibt diese Idee Behauptung, denn außer wiederkehrenden Pietà-Bildern sind wie immer bei Platel abwechselnd verzweifelt einsame Soli, grausam intensive Pas des Deux oder gruppendynamische Prozesse zu sehen, die das hinreißende Ensemble stets unter emotionalem Überdruck und mit gieriger Lebenswut auf den Tanzteppich schleudert.

Die akrobatischen Darsteller sind Geworfene ihrer eruptiven Kräfte: Aus pathologischem Bewegungszwang wird unversehens die tänzerische Arabeske und aus der artigen Pirouette ein Unfall mit verknoteten Gliedmaßen. Überhaupt gehen die Tänzer sich hart an: sie zerren an der Haut des anderen, als wollten sie einander häuten, sie trampeln aufeinander herum, betrommeln sich, klatschen aneinander und lassen wieder ab. Martern aller Arten, virtuos und mit schonungsloser Härte ausgestellt.

Dass sich dennoch die fällige Erschütterung nicht recht einstellen will, liegt vor allem an Fabrizio Cassols musikalischer Bearbeitung, die sich - womöglich aus Ehrfurcht - nicht recht traut. Die achtköpfige Musikertruppe bleibt in der Summe mutlos und rutscht mehrfach ins Gefällige ab. Schlechthin großartig aber das Sängertrio, aus dem der Countertenor von Serge Kakudji im schrillen Jesushemd besonders herausragt.

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