Schaufensterpuppenspektakel in Berlin: "Natürlich ist es auch eine Sozialkritik"

Jean Luc Courcoult, Gründer der französischen Straßentheatertruppe Compagnie Royal de Luxe, über die Kulturgeschichte der Schaufensterpuppe.

Passanten vor dem KaDeWe in Berlin, dahinter die Schaufensterpuppen in Aktion. Bild: dpa

taz: Herr Courcoult, seit einer Woche werden die Passanten, die am KaDeWe in Berlin-Wilmersdorf vorbeikommen, von Schaufensterpuppen der ganz anderen Art überrascht. Erzählen Sie doch mal, wie es dazu kam, dass Sie und Ihre Straßentheatertruppe Compagnie Royal de Luxe plötzlich Schaufenster bespielen.

Jean Luc Courcoult: Ich wollte schon als Jugendlicher unbedingt Theater machen. Mir ist klar geworden, dass es nicht viele Leute gibt, die regelmäßig ins Theater gehen. Aber auf der Straße sind so viel mehr Menschen, man muss etwas mit ihnen machen. Über die Schaufenster als Bühnen kann man ein größtmögliches Publikum erreichen und ein Maximum an unterschiedlichen Menschen. Das ist ganz simpel. Das ist Theater der Straße.

Seit fast 30 Jahren steht die französische Compagnie Royal de Luxe für außergewöhnliches, spektakuläres Straßentheater. Unter ihrem Gründer und künstlerischen Leiter Jean Luc Courcoult realisierte die Gruppe bisher über 25 Projekte. Angefangen mit Inszenierungen wie Le cap horn, Le parking de chaussures oder La demi-finale du waterclash, die sie Anfang der achtziger Jahre in Frankreich sowie auf europäischen Theaterfestivals zeigten, wurden sie mit Stücken wie Roman-photo tournage, La véritable histoire de France und Péplum international bekannt. Diese Produktionen wurden vor Tausenden von Zuschauern überall auf der Welt gespielt, in Europa genauso wie in Korea, China, Vietnam, Chile und Afrika. In den letzten 12 Jahren entwickelte Royal de Luxe phantastische Theaterereignisse mit riesigen Menschen- und Tierfiguren von bis zu 12 Metern Höhe, die zum Teil von bis zu 40 Darstellern gelenkt werden und in faszinierender Beweglichkeit agieren. Das viertägige Spektakel The sultan's elephant begeisterte 2006 ganz London und 2007 verwandelte die Geschichte vom Rhinozeros und der Kleinen Riesin die Straßen Santiago de Chiles in ein gigantisches Theaterfest.

Haben Sie vorher schon mit Puppen gearbeitet?

Schon, aber nicht in dieser Form. Ich bin Regisseur und es ist das erste Mal, dass ich mit Schaufensterpuppen arbeite. Als Regisseur bin ich mit vielen verschiedenen Dingen konfrontiert. Ständig heißt es: „Jean Luc, lass dir was einfallen!“ Und dann findet man zehn Ideen und davon funktioniert dann eine. So bleiben immer Dinge im Kopf zurück, Ideen, die nie verwirklicht wurden. So war es auch mit den Schaufensterpuppen. Als ich von einer Besprechung mit einigen Direktoren und Regisseuren kam, gingen wir an einem Schaufenster vorbei und da war sie wieder, diese eine Idee. Diesmal würden wir Szenen mit Schaufensterpuppen machen! Die Entscheidungsträger waren begeistert. Sie machten ja schon viele Jahre Objekttheater. Letztendlich kann man mit jeder Art Objekt etwas darstellen. Es folgt eine kurze Einlage mit Pfeffer- und Salzstreuer. Voilà, das ist Objekttheater. Ich fand einfach, es wäre toll, das auf der Straße zu machen und nicht in irgendwelchen Sälen. Konzepte und Geschichten zu finden, die nach außen wirken. Ich würde die Revolution der Schaufensterpuppen inszenieren.

Sie haben aber auch schon mit Marionetten in ganz anderem Ausmaß gearbeitet. Einige waren bis zu 20 Meter hoch.

Ja das ist wahr, aber ich bin kein Marionettist. Ich realisiere die verschiedensten Projekte an den unterschiedlichsten Orten – auch in kleinen Dörfern in Afrika. In Kamerun war ich sechs Monate, um die Geschichte des Dorfes zu erzählen. In China habe ich was gemacht. Ich verstehe es als meine zentrale Pflicht, verschiedene Kulturen kennen zu lernen, verschiedene Menschen. Das ist für mich der Inbegriff kultureller Begegnung. Vor Ort.

Ihre Theatertruppe, die Compagnie Royal de Luxe. Wer ist das alles?

Das kommt auf das Projekt an. Die Basis ist eine Person. Hier in Berlin waren wir 20. Bei der Geschichte der Riesen waren es 150.

Gibt es eine bestimmte Philosophie dahinter?

Nein, es gibt keine Philosophie, nur die Liebe zu den Menschen. Die Liebe zum Publikum.

Deshalb bringen Sie Liebe und Poesie in die Schaufenster?

Träume und Albträume von Menschen, die nicht existieren. Es sind ja immer noch Schaufensterpuppen. Die Aufgabe von Schaufensterpuppen ist es, uns ähnlich zu sehen. Und ich finde, dass sie mir überhaupt nicht ähnlich sehen.

Ihnen wird ja auch eine große Liebe zu Berlin nachgesagt. Wird es weitere Projekte in der deutschen Hauptstadt geben?

Die Revolte der Schaufensterpuppen war eine sehr gelungene Zusammenarbeit mit den Berliner Festspielen. Nächstes Jahr wird es noch besser. Es wird um das 20jährige Jubiläum des Mauerfalls gehen, aber mehr verrate ich noch nicht. Ich spreche niemals von einem Drehbuch, bevor es nicht realisiert ist. Das ist wie bei einem Krimi. Wenn man das Ende schon kennt, liest man auch das Buch nicht mehr. Auf jeden Fall wird es Riesen in der Stadt geben. Wesen, die fast lebendig sind. Die Kinder werden sie ansehen, als seien sie lebendig. Das Projekt heißt bei mir „Die Saga der Riesen“ und taucht alle paar Jahre auf. Ich entwickle es quer durch die Zeit, parallel zum Wachsen der Zuschauer. Von Mal zu Mal verändert sich die Wahrnehmung. Sowohl Zuschauer als auch Projekt finden sich jedes Mal in einer anderen Dimension wieder. Ein Zuschauer, der der Saga der Riesen mit 20 und dann wieder mit 25 begegnett, sieht sie mit ganz anderen Augen, befindet sich in einem ganz anderen Universum. Vielleicht hat er sich verliebt, vielleicht hat er ein Kind bekommen. Und auf einmal tauchen die Riesen wieder auf.

Nun kann man in den Schaufenstern Poesie statt der üblichen Luxusgüter sehen. Ist das eine versteckte Konsumkritik?

Natürlich ist es auch eine Sozialkritik. Das liegt ja auf der Hand, Sozialkritik am Konsum.

Wie funktioniert Die Revolte der Schaufensterpuppen?

Beim ersten Mal geht der Passant vorbei. Am nächsten Tag sieht er, dass sich da was bewegt hat. Er wird neugierig und kommt am dritten Tag wieder, um zu sehen wie es weitergeht. So entstehen Geschichten, weil der Passant seinen Freunden und Bekannten davon erzählt. Gleichzeitig ist es aber auch die Erweiterung der Konsumgesellschaft. Man konsumiert alles, auch die Kunst.

Und am Montag brechen die Schaufensterpuppen dann aus?

Deshalb nenne ich es die Revolte der Schaufensterpuppen. Sie haben ja ihre eigene Geschichte. Die erste Ankleidepuppe tauchte 1750 in London auf: Es handelte sich dabei um einen wohlgeformten weiblichen Torso – aus Weidengeflecht. Er musste aber unter Verschluss gehalten werden. 100 Jahre später holte die neugierige und aufgeschlossene Kaiserin Eugénie den Torso aus dem Keller des Schlosses. Das Objekt, das sich in einem miserablen Zustand befand, wurde Monseigneur Alexis de Lavygne übergeben, dem Erfinder des beweglichen Zentimetermaßes und Schneider der Kaiserin. Aufgepolstert und mit Leder überzogen wurde daraus ein nahezu lebendiges Wesen, befähigt Kleider zu tragen. Um 1900 begann ein fast unbekannter Holländer mit der Serienproduktion von anatomisch geformten Schaufensterpuppen, was ihm großen Erfolg auf der Weltausstellung in Paris bescherte. Selbiger Holländer wurde jedoch einige Monate später wahnsinnig und beging Selbstmord, nachdem er behauptet hatte, dass gelegentlich Tränen über die Gesichter seiner Kreaturen kullerten. Für ihn waren die Puppen ohne Zweifel Gefangene in ihrem Panzer. 1925 entwickelte man eine revolutionäre Methode der Nachbildung. Die Schaufensterpuppen vervielfachten sich und zeigten, dank der Verwendung innovativer Materialien, eine enorme Anpassungsfähigkeit. Zu dieser Zeit stellte eine Gruppe von Philosophen die These von der mutmaßlichen Existenz von Gefühlen bei diesen hochentwickelten Schaufensterpuppen auf. Die Modifikation, die meinerseits dazu kam, war, dass die Schaufensterpuppen Kolonisation darstellen. Genauso wie man Afrika und Indien kolonisiert hat. Für unsere Epoche ist es bezeichnend, dass Barack Obama gewählt wurde. Damals dachte man noch, dass Schwarze keine Seele hätten. Man muss sich mal vorstellen, was für einen Wandel zwischen den Epochen das darstellt. Das gibt mir Mut, wieder Vertrauen in die USA zu fassen. Nicht nur für die USA, sondern für die ganze Welt. Das ist ein Symbol der Freiheit. Wir werden später sehen, was er daraus macht, aber es ist eine Riesenhoffnung. Ich erzähle die Geschichte der Schaufensterpuppen als koloniale Geschichte, so als wären es keine Menschen. So wie die Portugiesen und Spanier es mit ganz Südamerika handhabten. Denn es geht ja so weiter im Leben. Egal zu welcher Zeit, alle Kriege haben immer ökonomische Hinterinteressen. Solange die Leute Geld verdienen, ist es ihnen egal, was sie anrichten. Was macht man mit unserem Planeten? Es sind die Reichen, Menschen einer bestimmten Altersklasse, die in 20 Jahren alle tot sein werden, was kümmert es sie dann.

Es sind ja nicht nur ökonomische Interessen, sondern vor allem auch kulturelle Unterschiede. Man kann sich hier nicht vorstellen, dass ein Mensch sich opfert, um eine Sache zu erreichen.

Und genau das ist der Grund, warum ich gerne mit verschiedenen Kulturen arbeite, um diese Lücke zu schließen und ein gegenseitiges Verständnis zwischen den Kulturen herzustellen. Interessant war, als wir in China waren und ein paar afrikanische Mitarbeiter der Truppe dabei waren, wie gut die sich mit den Chinesen verstanden. Nur wir Europäer waren von der Mentalität her weit weg. Diese Art von Erfahrung war nötig, um meine Philosophie der Kulturannäherung zu realisieren. Und damit auch die breite Masse zu erreichen und nicht nur die ohnehin an Kultur interessierten Menschen. Ich möchte die Menschen erreichen, die niemals nach Afrika reisen werden, in die entlegensten Winkel der Welt. Und bei diesen Menschen für mehr Verständnis zu sorgen mit Bildern von anderen Menschen. In den entwickelten Ländern denkt man zumindest bei Schaufensterpuppen sei man sicher, die gehen nicht auf die Barrikaden. Aber sie haben sich getäuscht!

Ist das Ausbrechen das große Finale?

Nein, nicht das große Finale. Es ist von Anfang an Revolte. Das ist eine innere Revolution.

Gibt es revoltierende Schaufensterpuppen auch in anderen Städten?

Ja, zum Beispiel in Nantes und Maastricht. Dort sind die Schaufenster verschiedener Geschäfte beteiligt. Die Schaufensterpuppen reagieren aufeinander. So werden, die, die nicht an der Revolution teilnehmen, bisweilen kaltblütig erschossen. Aber Berlin ist die einzige Stadt, wo wir ein ein so großes Geschäft wie das KaDeWe bespielen. Aber solche Projekte finden nur in entwickelten Ländern statt. Die Kulturgeschichte der Schaufensterpuppe ist eine der entwickelten Länder. Wenn man die Welt mit der Kinowelt gleichsetzt, sind die Hersteller von Schaufensterpuppen die Produzenten der echten Weltbühne. Die wollen, dass wir aussehen wie Schaufensterpuppen. Und sie schaffen es, dass wir es auch wollen. Es wird suggeriert, dass man nur die ausgestellte Kleidung kaufen muss und dann so aussieht wie die Schaufensterpuppe. Sie haben bestimmt noch keine dicke Schaufensterpuppe gesehen. Es werden Stereotypen geschaffen und das ist furchtbar.

Aber haben die Puppen nicht auch eine Entwicklung durchlaufen in den verschiedenen Epochen des 20. Jahrhunderts?

Ja, Mitte des 20. Jahrhunderts hatten sie zum Beispiel mehr Kurven. Anfangs waren sie noch individuelle Anfertigungen, was natürlich kostspielig war. Erst mit der Industrialisierung kam die sehr viel billigere Massenanfertigung und die Individualität ging verloren. So entstanden die Stereotype und stehen heute in den Schaufenstern Puppen, die fast keinen Körper mehr haben, so dünn sind sie.

Also meinen Sie, dass die Schaufensterpuppen ein Spiegel der Gesellschaft sind.

Ein verzerrter, verfälschender Spiegel, der uns etwas glauben lassen soll. Ebenso wie das Fernsehen in den Nachrichten. So beschäftigt mich derzeit, was im Kongo los ist. Dort wiederholt sich gerade die Hölle aus Rwanda. Das Massaker zwischen Hutu und Tutsi setzt sich dort fort. In den Nachrichten bekommt man hierzu nur die Meldung, dass Blauhelme dort sind und im nächsten Moment sehen wir einen Werbetrailer, in dem ein europäisches Pärchen in ein Auto steigt und davonfährt. Welcher Welt kann man nun trauen? Dem europäischen Traum oder...

... oder dem kongolesischen Albtraum?

Das ist etwas, das ich nicht verstehen kann und es geht immer so weiter mit unser aller Einverständnis. Wir alle haben das Bild des finanziellen Paradieses in Europa impliziert, akzeptieren gleichzeitig den Massenmord in Afrika und halten beides für Normalität. Auf der anderen Seite aber fühlen sich die Menschen brüskiert ob der Darstellung einer erschossenen Schaufensterpuppe und empören sich mir gegenüber, wie ich es wagen kann, solch ein Bild der Gewalt an einer Puppe darzustellen. Dabei werden so viele reale Menschen jeden Tag überall auf der Welt getötet und das ist denselben Menschen völlig egal.

INTERVIEW: MARLENE GIESE

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