Antigone in Berlin: Staatsräson oder menschliches Gefühl

Der Regisseur Jan Bosse inszeniert "Antigonae/Hyperion" am Maxim-Gorki-Theater in Berlin. Trotz aller Mühe gelingt es ihm aber nicht, die Distanz zum Stoff zu überwinden.

Tragödien-Darsteller auf irritierend düsterer Theaterbühne. Bild: gorki/thomas aurin

BERLIN taz Eigentlich soll an diesem Abend nur ein Toter begraben werden. Antigone will ihren im Krieg vor der Stadt Theben gefallenen Bruder beerdigen - wider den Willen des Königs Kreon, der in Polyneikes einen Staatsfeind vermutet, nicht mehr wert, als Hunden und Vögeln ein Fraß zu sein. Das familiäre und in Sophokles Drama auch göttlich-religiöse Recht streitet gegen den Staatsbefehl. Und weil mädchenhafter Ungehorsam hier den Egoismus der Mächtigen entlarvt, aber auf beiden Seiten Verblendung herrscht, ist "Antigone" für das Theater ein zeitlos interessanter Stoff. Welchem Gesetz soll man folgen?

Regisseur Jan Bosse will mit seiner Inszenierung am Berliner Maxim-Gorki-Theater aber noch einiges mehr als nur den Streit um Moral und Recht ausfechten. Vielleicht hat ihn der Erfolg seiner Klassikerinszenierungen angestachelt, in denen das Weitertreiben und -erzählen auch immer dazugehört. Jedenfalls hat er zusammen mit der Dramaturgin Andrea Koschwitz das Stück um Auszüge aus Hölderlins Briefroman ergänzt. "Antigonae/Hyperion" so der Titel des Abends; von "Schatten der deutschen Romantik auf der Tragödie des Sophokles" ist im Spielplan die Rede. Diese Schatten werfen allerdings kein frisches Licht. Sie lasten schwer auf dem Abend, und das Bühnenbild von Stephan Laimé trägt seinen Teil dazu bei. Der ganze Theaterraum ist irritierend düster.

Kleidungsstücke verteilen sich über die schwarz verhängten Sitzreihen. Auf der Bühne türmen sie sich zu Kleiderhaufen, zwischen denen einzelne Arme, Beine, Gliedmaßen erkennbar sind. Krieg hat hier gewütet. Polyneikes hat gegen den eigenen Bruder gekämpft. Aber auch die diffus romantische Todessehnsucht, von der viel die Rede ist, ergibt optisch eben dieses Schlachtfeld, einen "weit umherliegender Todtengarten", in dem Polyneikes fallen wird, nicht ohne vorher den "Schmerz der Sterblichkeit", die "verschlossenen Arme der Natur" und "Verstummen, Vergessen alles Daseins" zu beklagen.

Der Schauspieler Sebastian Rudolph verschmelzt die Figur des Polyneikes mit dem schwelgenden Text von Hyperion. In den Armen seiner Schwester Antigone, die ihn zwischen den Kleidern und Leichen findet, beschwört er das Unendliche, das im Endlichen steckt, und das Heroische, dessen gefährliche Nähe er suchte, während sie an Liebe, nicht an Hass appelliert - und so viel Leid, hehres Pathos und entfesseltes Gefühl machen dann tatsächlich die Toten wieder lebendig. Sebastian Rudolph steht wieder auf, öffnet weit die Augen oder zappelt wie in letzten Leichenzuckungen.

Ungebrochen bringt Bosse auch diesen Klassiker nicht auf die Bühne. So konsequent wie etwa in seinem "Hamlet" am Schauspielhaus Zürich der Stoff regelrecht erspielt wird, gelingt das allerdings nicht. Polyneikes Leichenzuckungen geraten zu ernst für ein Spiel mit der Illusionsmaschine Theater und zu unernst, um an eine Auferstehung von den Toten durch Kraft der Liebe zu glauben. König Kreon (Ronald Kukulies) schimpft am Rednerpult: "Krise, Krise, Krise." Dieser Verweis auf reale Gegenwart bringt zwar sichere Lacher, hängt aber einsam und unpassend in der Luft. Kreons Sohn Haimon geht an Krücken, und ihm wie dem ein Dutzend Mann starken Chor baumelt eine Soldatenmarke am Hals, während man den Hofstaat sofort an Anzug und Schlips erkennt.

Doch weniger Staatsräson als menschliche Gefühle erklären bei Jan Bosse die Handlung: das zunehmende Schuldbewusstsein Kreons, die Bruderliebe Antigones, Ismenes Zweifeln oder die Verschlagenheit des Boten, der eigene Interessen verfolgt. Bosse lässt die "Antigonae"-Übersetzung von Hölderlin spielen. Sie trägt das dunkle, wuchtige in sich. Mit den dräuenden Sätzen wenden sich die Schauspieler nach vorn und sprechen monologisch-dringlich ins Publikum. Sie treten auch von beiden Zuschauergängen auf, um mehr Nähe zu suchen. Und man ist auf der Hut, ob sie nicht gleich auf Zuschauersitze klettern. Aber zu wem spricht eigentlich Anja Schneiders Antigone, wen meint sie, wenn sie ruft: "Seht, ihr Vaterlandsbürger, den letzten Weg mich gehen"? Man schaut sie gern an mit ihrer Zopffrisur des Edelfräuleins und den fein geschminkten Augen. Doch wer kann sich bei solcher Ansprache schon gemeint fühlen?

Trotz aller Mühe wird die Distanz zum Stoff und zur Sprache nicht überwunden. "Intelligente Literaturvermittlung" wird in jüngster Zeit zum Zaubermotto des Theaters ausgerufen. Aber wie schnell landet man damit bei einer Textvermittlung, die mehr verdeckt als freilegt und konventionelle Spielweisen befördert. Die Durchlässigkeit zwischen Leben und Tod kann man an diesem Abend am ehesten in den gedehnten, traurigen Sounds von Arne Kraehahn vermuten. Auf der Bühne löst sie sich jedenfalls nicht ein, da kann Polyneikes noch so oft die Augen aufschlagen und von den Toten auferstehen.

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