Fotografie-Ausstellung im Hamburger Bahnhof: Wenn Künstler philosophieren

„Reine Vernunft“ hat das Künstlerpaar Bernhard und Anna Blume ihre Werkschau betitelt. Immanuel Kant als Godfather der Konzeptfotografie? Das wird spannend!

Der Hamburger Bahnhof: Kant und Kunst - nicht nur für Hinz und Kunz. Bild: dpa

"Die Idee einer besonderen Wissenschaft, die zur Kritik der reinen Vernunft dienen könnte" - diese Idee trieb Immanuel Kant zu seinem berühmten Buch von 1781. Ihn leitete die pädagogische Absicht, die Urteilskraft des Menschen zu stärken. Die pure Analyse, meinte der Philosoph, reiche nicht aus, um die Erkenntnis zu erweitern. Man müsse vielmehr "außer dem Begriffe des Subjekts noch etwas anderes haben, worauf sich der Verstand stützt": die Empfindung.

Kants "Transzendental-Philosophie" fragte nach Korrespondenzen der gegenständlichen Welt und ihrer geistigen Anschauung - dass etwa Substanz und Dichte eines Körpers in der Empfindung als Härte wiederkehren, legte für ihn den Schluss nahe, dass es in der Erscheinung "die Materie derselben" gibt.

"Reine Vernunft" lautet der schlichte Titel der großen Ausstellung von Anna und Bernhard Blume. Etwa in der Mitte des Hamburger Bahnhofs stößt man auf einen Porzellanteller, auf dem diese beiden Worte prangen. Umgeben ist er von weiteren Tellern mit Aufschriften wie "Seele", "System" und "abstrakt". Die großformatigen, mehrteiligen Fotoarbeiten, die den Kern der Ausstellung ausmachen, tragen Werktitel wie "Transzendentaler Konstruktivismus". Sie bestärken den Bezug auf Kant als Spiritus Rector jener "besondere Wissenschaft" namens Konzeptfotografie, der sich Bernhard und Anna Blume seit 30 Jahren verschrieben haben.

Dass der Erkenntnisglaube des Vaters der Aufklärung kräftig unterwandert gehört, das ist allerdings ebenso Teil der Botschaft dieser ironischen, von Dada und Fluxus beeinflussten Schule, der man das Künstlerehepaar zuordnen muss. (Bernhard Blume hat mit Sigmar Polke bei Josef Beuys an der Kunstakademie in Düsseldorf studiert. Seine Frau trägt den gleichen Namen wie Kurt Schwitters Muse Anna Blume: Zufall, aber auch sprechende Korrespondenz.)

Ein Teller ist ein dumpf-serviler Gegenstand, ein Symbol der Duldung des Alltäglichen - das Gegenteil eines Spiegels, jenem alten philosophischen Symbol der Erkenntnis. Auch mit dem modernen Nachfolgeinstrument des Spiegels, der (Spiegelreflex-) Kamera, treiben die beiden Künstler statt Erbauung des Subjekts lieber verwirrenden Schabernack. Da hängen Menschen an Ästen oder über abstrakten Skulpturen, fallen aus Baumkronen (in einem - leider toten - romantischen Wald) oder mit Vasen um die Wette (in einem anderweitig ordentlich wirkenden Wohnzimmer mit Sitzgarnitur und Schrankwand). Sie stürzen, torkeln, balancieren oder ducken sich in Ecken. Ihre Gesichter, verwischt und verzerrt festgehalten, sind expressive Masken, in der Regel mit einem Ausdruck zwischen Überraschung und Panik. Manchmal ist ihnen aber auch schlicht ein Karton übergestülpt, sodass dort, wo der Kopf sein sollte, eine comicartige Leerstelle prangt.

Umgekehrt kennzeichnet den Raum eine Verdichtung seiner unsichtbaren Strukturen und Energien. Wie eine spöttische Antwort auf Kants Materie der Erscheinung wirkt der Einsatz des Werkstoffs Styropor: Diese mit Luftblasen aufgeschäumte Substanz wird, in abstrakte Formen modelliert, zum Bindeglied zwischen dem menschlichen Körper und dem leeren Raum. Wer hier wen definiert, ist dabei nicht zu sagen; beide Instanzen halten sich die Waage.

Trotz ihrer vehementen szenischen Aktion wirken die Bilder gar nicht wie Bilder, sondern wie eine Hieroglyphenschrift. Sei es wegen der zeichenhaften Struktur der abstrakten Skulpturen oder wegen der geometrischen Präzision der Köperhaltungen - auch wer fällt, tut dies mit glatt angelegten Armen oder rechtwinklig ausgestellten Füßen. Noch eine Kartoffel wandelt sich zur dekorativ abgeschälten Arabeske und die in Nahaufnahme fotografierte Wandtapete zum keilschrifthaften Relief. Doch die Botschaft bleibt okkult. Nicht umsonst entdeckte 1997 eine Ausstellung zur spiritistischen Fotografie im Mönchengladbach Bernhard Blume als späten Nachfahren. So wie die Versuchsanordnungen von Nervenärzten und Geisterbeschwörern des 19. Jahrhunderts dazu dienten, sozusagen die unsichtbare Tinte in den Köpfen der Menschen sichtbar zu machen - die Spur ihrer Gedanken, ihre inneren Gesichte -, so geht es hier um so etwas wie parapsychologische und parareligiöse Phänomene. Die Vasen, Sofas und Schrankwände in den Interieurs der Blumes rütteln voll geisterhaftem Leben wie Séance-Tische und ihre soliden, bürgerlichen bis spießbürgerlichen Bewohner werden von den plötzlich waltenden Kräften erfasst - oder bringen sie sie selbst hervor?

"Im Areal der reinen Vernunft ist die Kunst die letzte Zufluchtsstätte für Gemütsanteile, die noch nicht gänzlich zu sich selbst gekommen sind", heißt es in einem der Wandtexte. Diese Zufluchtsstätte ist nicht Kants moralische und metaphysische hohe Schule, sondern deren postromantische Parodie. Aber auch hier gibt es eine Lektion: Man unterschätze nicht, in welchem unsichtbaren Kräftefeld man sich bewegt und welches Klopfzeichen man jeden Moment empfangen könnte. Das Utopieversprechen der Blumes lautet: Jeder kann Medium sein.

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