Der Umgang mit Skandalen: Erregung ist ein Ärgernis

Kinder! Pornografie! Politiker! Korruption! Betrug! Egal! Warum wir uns öffentliche Empörung über angebliche oder echte Skandale in den meisten Fällen einfach sparen sollten - und wem sie dient.

Aufregen um jeden Preis - es gibt schließlich genug Gründe. Bild: photocase/misterQM

Was haben folgende wahllos ausgewählte Nachrichten aus der jüngsten Zeit gemein? Ein kleines Mädchen fällt einem Sexualmörder zum Opfer; in Kinderspielzeug finden sich giftige Zusätze; eine Milliardärin wird von einem falschen Liebhaber erpresst; eine Todgeweihte vermarktet ihr Sterben; Schiedsrichter stehen im Dienst einer Wettmafia; ein Autokonzern soll Steuern in den USA gezahlt und Verluste in Deutschland abgeschrieben haben; ein Bundeswehrsoldat wird in Afghanistan von einem Selbstmordattentäter getötet; ein Unternehmer wirft sich vor einen Zug; ein Abgeordneter wird des Besitzes von Kinderpornografie verdächtigt …

Die Liste ließe sich problemlos fortsetzen, und tatsächlich wird sie das tagtäglich tun, bis ans Ende aller Tage, verursacht doch jede dieser Nachrichten einen Ausschlag in der Öffentlichen-Erregungs-Kurve - stellt also das dar, was wir als Skandal, Affäre, Aufreger oder auch als "Sau" wahrnehmen, "die durchs Dorf getrieben wird".

Damit wir diese Sau als solche überhaupt wahrnehmen können, bedarf es einer Demokratie, die eine freie Presse zulässt, und einer freien Presse, die von der Produktion immer neuer Erregungen lebt, die Gesellschaft also mit den Mitteln der Massenkommunikation auf Dorfgröße zusammenschnurren lassen muss.

Was wiederum rasch zu einer optischen Täuschung führt: Es wird nicht stetig alles immer schlimmer, es wird nur immer mehr darüber berichtet. In totalitären Staaten beispielsweise ist kein Platz für den Skandal, weil dort der Staat selbst der Skandal ist. Vielleicht ist es aber dennoch eher ein Bärendienst, den die angeblich so freien, tatsächlich aber auch den Gesetzen des Marktes unterworfenen Medien der Gesellschaft da leisten.

Laut einer schönen Definition von Andrea Mork, Kuratorin beim Haus der Geschichte in Bonn, sind Skandale "Verfehlungen, die im Zuge ihrer Enthüllung eine weithin empfundene öffentliche Empörung auslösen". Womit noch keine Aussage darüber getroffen wäre, wie berechtigt diese "öffentliche Empörung" ist - und was aus ihr günstigstenfalls zu folgen hätte, nämlich die in gemeinschaftlicher Anstrengung zu erfolgende Beseitigung der Fehlentwicklung, auf die der Skandal nur verweist und die der Empörung zugrunde liegt.

Anders gesagt: Die Empörung, als Erregung verstanden, besitzt noch keinen Wert an sich - außer für die Medien, die sie unausgesetzt produzieren müssen.

Und weil sie für die Medien so wertvoll - nämlich auflagen- und quotensteigernd und damit geldwert - ist, werden immer häufiger die ersten beiden Stufen übersprungen, die am Ende zur Erregung führen: die Regelverletzung - etwa durch einen Abgeordneten, der kinderpornografisches Material hortet - und die Offenbarung dieser Regelverletzung - beispielsweise durch den Abgeordneten selbst oder die Staatsanwaltschaft, die sich um die Aufhebung seiner Immunität bemüht.

Stattdessen wird, kaum dass der Verdacht an die Öffentlichkeit dringt, so ausgiebig über diesen Verdacht berichtet, dass er fast augenblicklich zur Gewissheit gerinnt. Ganz egal, ob was dran ist oder nicht, hey: Kinder! Pornografie! Politiker! Selbst wenn man im Nachhinein alle Vorwürfe ausräumen müsste, so bleibt von dem zuvor nach Kräften aufgewirbelten Dreck doch "immer etwas hängen". Nicht mehr nur im Gedächtnis oder in papiernen Archivakten, sondern im elektronischen Gedächtnisarchiv des Internets für alle Zeiten.

Das Problem dieser perpetuierenden Archivierung von Momentaufnahmen oder laufenden Verfahren ist, dass sie eines der elementaren Grundprinzipien aller rechtsstaatlichen Strafverfahren heiter ignoriert: die Unschuldsvermutung, von der es unter anderem in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen heißt: "Jeder Mensch, der einer strafbaren Handlung beschuldigt wird, ist so lange als unschuldig anzusehen, bis seine Schuld in einem öffentlichen Verfahren […] gemäß dem Gesetz nachgewiesen ist."

So einfach ist das - und doch so unmöglich, weil der Mensch kaum ein Angebot so willfährig annimmt wie das, sich über irgendetwas zu erregen; über so harmlosen Quatsch wie die aktuellen Bundesliga-Ergebnisse bis hin zu den ganz großen, echten Aufregern. Und Vorsicht ist immer geboten: So manche Sau, die da durchs Dorf getrieben wird, ist eigens zu diesem Zweck gezüchtet worden.

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