Dubstep von Kode9: Nach dem radioaktiven Fallout

Auf ihrem neuen Album "Black Sun" mischen der Produzent Kode9 und der Rapper The Spaceape die Euphorie der Tanzfläche mit Momenten des Verlusts.

Immer mittendrin: Steve Goodman. Als Kode9 legt er auf, produziert Tracks und ein Debütalbum. Bild: promo

Der Stand der Dinge in Sachen britischer Bassmusik - er lässt sich nie formulieren. Zu unübersichtlich sind die Verläufe von Genres und Subgenres, zu kurzatmig die Mikrotrends zwischen Clubs und Piratensendern. Aber dass ein Producer der ersten Stunde sein Album nach einer Boulevardzeitung benennt, ist selbst im verschachtelten Universum britischer Bassmusik einmalig.

Im August 2008 rief die Boulevardzeitung The Sun ihre Leser zu einem "Zwangsouting" auf. Gesucht wurde die wahre Identität von Burial, dem enigmatischen Dubstep-Producer aus dem Londoner Süden, über dessen bürgerlichen Namen lange Zeit spekuliert worden war. "Mich hat das fürchterlich aufgeregt", erzählt Steve Goodman, der Burial auf seinem Label Hyperdub veröffentlicht. "Als ich Exemplare der Sun in der Spüle meines Apartments verbrannt habe, kam mir der Begriff ,Black Sun' zum ersten Mal in den Sinn."

Zittrige Synthesizer

Seitdem lässt er ihn nicht mehr los. "Black Sun" ist der Titel seines neuen Albuma, in dessen Herzen der gleichnamige Titeltrack steht. 2009 war er zum ersten Mal als Maxi erschienen und zugleich Erinnerung und Neubeginn. Denn spätestens seit sich die Massenmedien am Outing von Burial interessiert gezeigt hatten, zeichnete sich ab, dass die Tage als Experimentierfeld im Underground für Dubstep gezählt sein würden. In vier Jahren hatte sich zwischen Bristol und London ein Netzwerk aus DJs, Clubs und Piratensendern herausgebildet, das über Fans und Freundschaften langsam Europa und die USA infizierte.

Immer mittendrin: Steve Goodman. Als Kode9 legt er auf, produziert Tracks und ein Debütalbum. Als Dr. Goodman doziert er und schreibt ein Buch über den Zusammenhang von Soundtechnologie, Kontrolle und Kriegsführung - Themen, die er seit Jahren auf Mailinglisten und in Fanzines diskutiert hat. Hätte die Sun nach dem typischen Gesicht von Dubstep gesucht, sie hätte auch seins nehmen können: blass, leicht übermüdet und mit tiefen Rändern unter den wachen Augen.

Auch Goodmans Hyperaktivität im Underground kommt 2008 an ein Ende. Der Sound von Dubstep wird formelhafter, das Publikum erwartet aggressive Bässe statt Experimentierfreude. Die Piratensender spielen derweil lieber die euphorischen Rhythmen von UK Funky. In Bristol beginnen junge Producer die Beats von Dubstep mit den Synthesizern von G-Funk und der 16-Bit-Ästhetik von Videospielen zu kombinieren. Von Kode9 ist zu dieser Zeit wenig zu hören, von Steve Goodman nur zu lesen.

Ein Jahr später brachte "Black Sun" dann beides zusammen. Hart komprimierte Claps treiben den Track im Viervierteltakt voran und werden dabei von einer Bassline unterstützt, die die goldene Ära des Funk emuliert. Und über all dem liegt ein Synthesizer, der ungemein zerbrechlich wirkt. Es ist eine einfache Wellenform, rhythmisch moduliert, die immer wieder ins Dissonante gleitet, ohne sich darin zu verlieren. Seitdem beherrschen diese zittrigen Synthesizer die britische Bassmusik. Joy Orbison mischt sie zu sanften Flächen housiger Wohligkeit, auf den Releases von Night Slugs leuchten sie in grellen Ravefarben. Doch bei Kode9 liegt ein Grauschleier über den Synthesizerspuren, trägt die Euphorie der Tanzfläche auch zugleich das Moment des Verlusts in sich.

"Meine Musik hat immer eine melancholische Seite gehabt, die ihre Raveyness dämpft", erzählt Goodman. Trotzdem ist die Tanzfläche das Zentrum seiner Musik. Denn auch im Herzen des Albums "Black Sun" regiert der Funk. Wobei man das Wort vielleicht in diese Anführungszeichen setzen muss, mit denen man ein Zitat kenntlich macht. Denn vom Genre Funk sind bei Kode9 nur die Tasteninstrumente übrig geblieben.

"Das Album ist ein schrittweiser Einstieg in die radioaktive Welt des Synthesizers", führt Goodman aus. "In den letzten Jahren habe ich mich für die Genealogie des ,Funky Worm' interessiert." Auf der Single "Funky Worm" der Ohio Players gaben diese analogen Synthesizer, deren Wellenform in psychedelische Höhen moduliert wird, 1973 ihr Debüt.

Danach tauchen sie immer wieder in der Musikgeschichte auf: in den afro-futuristischen Entwürfen von George Clinton, in den HipHop-Produktionen von Dr. Dre und auf "Black Sun". Hier schichten sie sich zu kosmischen Flächen, nur um mit einem Rhythmus-Skelett gepaart zu werden, das den typischen Dubstep-Halfstep in immer neue Variationen übersetzt.

Reichlich Überbau

Doch damit "Black Sun" diese Atmosphäre des "neon-noir" (Kode9) verbreitet, braucht es eine Stimme. Goodman findet sie in Spaceape, einem Vokalisten, der wie kein Zweiter die Verlangsamung zum Prinzip erhoben hat. "Wenn Steve einen Track produziert und ich die Texte dazu schreibe, werden sie immer die gleiche Stimmung haben", beschreibt Spaceape ihre Zusammenarbeit. Er zerdehnt die Vokale bis die Atembewegungen hörbar werden, beherrscht alle Spielarten jamaikanischen Gesangs zwischen Aggression und Melancholie. Und bleibt dabei immer ein Erzähler, der mit abstrakter Metaphorik persönliche Geschichten ausbreitet.

"Das Album handelt von unseren eigenen Erfahrungen und Realitäten der letzten zwei Jahre, aber wir mussten diese an einen anderen Ort verlagern, damit sie ein wenig Humor haben." Und so spielen die Geschichten um zerstörerische Beziehungen und falsche Propheten nicht im London der Nullerjahre, sondern in einer Welt nach einem radioaktiven Unfall. Einer Welt wie aus den Kurzgeschichten von J. G. Ballard, diesem britischsten aller Science-Fiction-Autoren, dessen Szenarien nur deshalb nicht von dieser Welt waren, um sein Heimatland umso treffender beschreiben zu können.

"Verfremdung ist für mich ein Weg, neue Ideen zu finden, anstatt in Selbstmitleid zu verharren", beschreibt Spaceape seine Arbeitsweise. Doch diese Verfremdung, sie geht bis in sein Innerstes - zur Stimme. "Wir haben Spaceape multipliziert, sodass ein Schwarm von Mini-Spaceapes im Hintergrund singt", gibt Kode9 zu Protokoll. Und inszeniert auf diese Weise das sonore Timbre Spaceapes als ruhenden Gegenpol zu seinen Synthie-Tupfern und den hellen Vocal-Sprengseln der chinesischen Sängerin ChaCha.

Ziemlich viel Überbau, zumindest wenn "Black Sun" nur eine Variation der Stile wäre, die britische Clubmusik seit den Hochzeiten von Jungle in den frühen Neunzigern hervorgebracht hat. Dabei verweist das Album eher auf die erste Hälfte der 1980er, als in Großbritannien Theorie und Praxis auf Post-Punk-LPs und Dub-Maxis nicht nur in die Auslaufrille geritzt waren. Kode9 und Spaceape updaten dieses zwischen Akademie und Dancefloor improvisierende Künstlermodell mit der zeitgenössischen Universalgrammatik britischer Bassmusik.

Auf der Strecke bleiben dabei die Parolen, das Anbiedern an eine Bewegung, die ja doch nicht zuhören will. Stattdessen perfektionieren Kode9 und Spaceape eine Melancholie, die den Verlust einer kollektiven Vorstellung von Utopie betrauert und die sich im Vereinigten Königreich bis heute nur mit elektronischen Mitteln ausdrückt. Kode9 und Spaceape deuten inmitten dieser Melancholie zumindest die Möglichkeit einer Alternative an. Dabei verlieren sie den Dancefloor nie aus den Augen. Was nur heißt, dass sie es ernst meinen.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.