Motown-Produzent an Diabetes gestorben: The Great Extender

Der große Norman Whitfield ist tot. Als Produzent für das Motown-Label erfand er den psychedelischen Soul. Das epochale "Papa Was A Rolling Stone" war sein größter Hit.

Whitfield produzierte unter anderem den Song "I Heard It To The Grapevine". Bild: ap

Norman wer? Berechtigte Frage, der Mann steht ja immer nur im Kleingedruckten. Also riskieren wir die große Lippe und behaupten: Norman Whitfield war so bedeutend wie Jimi Hendrix, Sly Stone und Curtis Mayfield. Dabei ist er zunächst nur Handlanger am Fließband der Hitfabrik Motown in der Motor-Town Detroit. Deren Gründer, Berry Gordy, ein Vorzeigeprotagonist des Integrationsmodells black capitalism, organisiert die Produktion von Hits nach dem Vorbild der Detroiter Autofabriken Ford und General Motors. Das einmal gefundene Erfolgsmodell wird endlos reproduziert, mit kaum merklichen Konzessionen an den Zeitgeschmack. Modell A: Fröhlicher Uptempo-Song über das Glück der Liebe, nicht über drei Minuten. Modell B: Traurige Ballade über das Unglück der Liebe, nicht über drei Minuten. Mit diesem Patent wird Motown zum erfolgreichsten Hitlieferanten der Sechziger, die Künstler dazu heißen The Supremes, The Four Tops, The Temptations, Smokey Robinson, Marvin Gaye.

Oft hat Norman Whitfield die Finger im Spiel, als Komponist und Produzent. Doch gegen Ende der Sechziger sieht Motown ziemlich alt aus. Typen wie Hendrix, Stone und Mayfield treiben Rock, Funk und Soul weiter, an Motown geht die Entwicklung vorbei. Während der Patriarch Gordy stur am Erfolgsrezept festhält, betreibt Whitfield die Extension des 3-Minuten-Formats.

Inspiriert von Sly Stones Wahlverwandtschaftsfamily aus Weißen & Schwarzen, Frauen & Männern mit farbigen Afros überträgt Whitfield seine vom Gospel befeuerte Vision von afropsychedelischem Funk auf die braven Temptations. Alles wird länger und breiter.

Vom Negro zum Afro

 

Mit den knatschbunten Flowerpower-Klamotten fremdeln die Athletenkörper doch arg, unten gewaltiger Hosenschlag, oben wuchernder Afro. Vorbei die Zeit, da Motown-Acts in einer charm school auf den All American Look und gute Manieren gedrillt wurden. Vorbei die Zeit, an die der schwarze Literaturwissenschaftler Henry Louis Gates erinnert: "Bei der Menge von Schwarzen, die sich nach wie vor die Haare entkrausen lassen, ist es eigentlich ein Wunder, dass wir statt für Martin Luther King nicht einen Nationalfeiertag für Madame C. J. Walker haben, die Erfinderin der Entkrausmethode." In den frühen Sechzigern spricht sogar King noch vom "Negro", am Ende des Jahrzehnts steht der Afro für: afroamerikanisches Selbstbewusstsein, afrodelischer Sound.

Whitfield macht die Songs länger, die Arrangements komplexer, die Gitarren verzerrter, die Chöre gespenstischer, die Texte politischer. Die Temptations jammern, er lege mehr Wert auf die Instrumentierung als auf ihre Sangeskunst. Dass sie über Kriege, Umweltzerstörung und Familienkrisen singen müssen. Aber Whitfields Umerziehungsprogramm überzeugt sogar den konservativen Motown-Boss Gordy, denn: es verkauft sich. Der Psychedelic Soul produziert epochale Hits. "Law of the land", "Ball of confusion" und, der größte von allen: "Papa was a rolling stone".

1972 steht "Papa" für den Paradigmenwechsel. Die extended Version dauert fünfmal so lang wie die normale Motown-Single. Der Text ist die dystopische Antwort auf einen fröhlichen Motown-Hit aus den optimistischen Frühsechzigern. "Wherever I lay my hat, thats my home", singt Marvin Gaye 1962 und feiert den promisken Lifestyle des jungen schwarzen Beau. Zehn Jahre nach Gayes-Casanova-Hymne erzählen die Temptations von den Folgen: "Papa was a rolling stone, whereever he laid his hat was his home". Um Frau und Kinder hat er sich nie gekümmert und "when he died, all he left us was alone". So explizit und eindringlich wie nie zuvor spricht der Song das afroamerikanische Dilemma der vaterlosen Gesellschaft an. Der Text stammt zwar von Whitfileds langjährigem Koautoren Barrett Strong, seine Wirkung verdankt der Song aber vor allem der musikalischen Textur. Damit schafft es Whitfield, das Auslaufmodell Temptations auf die neuen Zeiten umzufrisieren. Und ein heikles "schwarzes" Thema in die Charts zu hieven.

Zum Dank für seine Runderneuerung der Marke Motown kriegt Whitfield ein Spielzeug. Mit der Band Undisputed Truth kann er unbelastet von Verkaufskalkül und Airplayzwang seine Träume vom entgrenzten afrodelischen Funk realisieren. Ihre Spezialität sind Körperextensionen: unten mächtige Plateaus aus Silber und Gold, oben turmhohe Afros, bevorzugt in Silber und Weiß. Undisputed Truth dürfen sich über all die großartigen Songs, die Whitfield für die Temptations schrieb, noch mal hermachen, im Spiel-ohne-Grenzen-Modus: prachtvolle Intros, ausgiebige Call & Response-Passagen, repetitive Rhythmen, der Himmel voller Geigen, die Tiefe des Raums - eine frühe Blaupause von House. Gitarrist Melvin Ragin macht seinem Spitznamen "Wah Wah" alle Ehre, ein umfangreiches Arsenal an Schlagwerkzeugen will genutzt sein, schließlich gilt es Songtitel wie "Ungena Za Ulimwengu" zu rechtfertigen. Auch Undisputed Truth landen einen paradigmatischen Hit: "Smiling faces sometimes (they dont tell the truth)".

Lächelnde Gesichter lügen

 

Wie sein Philly-Pendant, das nicht minder großartige "Backstabbers" der OJays, transformiert "Smiling faces" die beliebte Gattung des Cheatin Soul aus dem privaten Feld der Liebe in die Politik. Beide Songs warnen vor den lächelnden (weißen) Gesichtern, die manchmal lügen. Bei den OJays lächeln sie von vorne und jagen dir von hinten das Messer in den Rücken. Ohne präziser werden zu müssen, handeln beide Songs von den Gefahren, die lauern, wenn aus jahrhundertelanger Unterdrückung plötzlich Agreement wird, von dem Problem, dass der eben-noch-Unterdrücker/Sklavenhalter jetzt gleichberechtigter Partner sein soll. "Smiling faces" erreicht Platz 3 der Charts und bleibt der größte Erfolg von Undisputed Truth. Und einer der größten Momente von Norman Whitfield. Der Great Extender starb am 16. September an den Folgen einer Diabetes im Alter von 68 Jahren.

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