Wer ist Wikileaks?: Die Rache der Nerds

Wikileaks sorgt mit seinen Veröffentlichungen für Furore - und revolutioniert Medien und Demokratie. Wer steckt dahinter und wer kontrolliert die neuen Kontrolleure?

Ein von Wikileaks veröffentlichtes Video zeigt, wie US-Soldaten wahllos Menschen abschießen. Einer davon war der Fotograf Namir Noor-Eldeen. Bild: ap

Dreihundert Blogger, Netzaktivisten und Journalisten warten. Auf den Mann, der die Art, wie Öffentlichkeit im Internetzeitalter funktioniert, revolutioniert wie kein anderer: Der Australier Julian Assange, führender Kopf hinter dem weltweiten Whistleblower-Netzwerk Wikileaks.

Doch Assange kommt nicht. Er hat seinen Auftritt auf der Bloggerkonferenz in Berlin kurzfristig abgesagt. Das passt zu Assanges Image eines Phantoms, das heute hier und morgen dort ist: Island, USA, Kenia. Und von dem kaum mehr bekannt ist, als dass er Ende 30 ist, Physik studiert hat und in seiner Jugend Teil der Melbourner Hackerszene war. Als das Technologie-Magazin Wired mit ihm in London eines der seltenen persönlichen Interviews führte, die er bisher gab, stand Assange mittendrin auf und sprang zum Zug.

Die wenigen Fotos, die es von Assange gibt, zeigen ihn als einen schlaksigen Kerl mit halblangen, weißblonden Haaren und konzentriertem Blick. Er ist der Mann, der maßgeblich die Geheimnisverräter-Plattform Wikileaks aufgebaut hat, die seit Ostermontag weltweit bekannt ist. Er ist der Mann, der Staaten und Unternehmen ebenso das Fürchten lehrt wie etablierten Medienhäusern.

5. April 2010: Wikileaks veröffentlicht ein Video aus Bagdad ("Collateral Murder"), das zeigt, wie im Juli 2007 von einem US-Hubschrauber aus zwölf Menschen erschossen werden - darunter zwei Mitarbeiter der Nachrichtenagentur Reuters. Reuters hatte zweieinhalb Jahre vergeblich versucht, an das Video zu kommen.

13. Dezember 2009: Der Feldjägerbericht der Bundeswehr zum Angriff auf einen Tanklaster bei Kundus, bei dem bis zu 142 Menschen starben, erscheint bei Wikileaks. Bis dahin kannte die Öffentlichkeit den mit "VS - nur für den Dienstgebrauch" gekennzeichneten Bericht nur in Auszügen.

Juli 2009: Interne Dokumente zur Kaupthing-Bank erscheinen, aus denen hervorgeht, wer für deren Pleite verantwortlich zu machen ist. Der Zusammenbruch der Bank hatte Island an den Rand des Staatsbankrotts gebracht. Als das isländische Fernsehen über die Dokumente berichten will, erwirkt die Bankenaufsicht ein Berichtsverbot. Der Sender verweist die Bürger auf www.wikileaks.org.

Februar 2008: Hunderte von Unterlagen der Schweizer Privatbank Julius Bär, die deren Verwicklung in die Steuerflucht ihrer Bankkunden nahelegt, gehen online. Die Anwälte der Bank erwirken in Kalifornien zwar vorübergehend eine Sperrung der Seite. Aber über zig andere Seiten ("mirror sites") und die in Zahlen angegebene IP-Adresse in Schweden bleiben die Dokumente zugänglich.

November 2007: Wikileaks stellt ein Handbuch für US-Soldaten im Gefangenenlager Guantánamo ins Netz. Daraus geht hervor, dass Mitarbeitern des Roten Kreuzes absichtlich der Zugang zu bestimmten Gefangenen verweigert wurde. Die US-Regierung hatte dies bisher bestritten.

2010: Wikileaks hat weitere Veröffentlichungen angekündigt: So soll ein Video existieren, das zeigt, wie 97 Zivilisten in Afghanistan durch einen US-Luftschlag sterben. Außerdem sollen demnächst 37.000 interne E-Mails der NPD veröffentlich werden.

Schon vor der Veröffentlichung des Bagdadvideos, das die Erschießung von Zivilisten am 12. Juli 2007 zeigt, hatte Wikileaks weit mehr als eine Million Dateien öffentlich gemacht. Doch erst das Video von der Menschenjagd aus einem US-Helikopter hat die Macht von Wikileaks endgültig verdeutlicht. Zweieinhalb Jahre waren die klassischen Medien nicht in der Lage, das Video zu besorgen und öffentlich zu machen. Nicht der BBC hat es geschafft, nicht die New York Times, nicht der Spiegel - sondern eine verrätselte Organisation, die nach eigenen Angaben von chinesischen Dissidenten, Journalisten, Mathematikern und Technikern aus den USA, Taiwan, Europa, Australien und Südafrika gegründet wurde. Ein selbst ernannter "Geheimdienst für die Menschen".

Doch je mehr die Organisation enthüllt, umso drängender wird die Frage: Wer steckt hinter der Gruppe selbst? Und wer kontrolliert die neuen Kontrolleure?

Den Applaus für die Veröffentlichung des Bagdadvideos holte sich vergangene Woche in Berlin der Deutsche Daniel Schmitt ab, der so etwas wie der Sprecher von Wikileaks ist. Minutenlang klatschten die Vertreter der Netzcommunity, nachdem Schmitt Wikileaks selbstbewusst als "aggressivste Presseagentur der Welt" präsentiert hatte. "Helft uns, Geschichte zu machen", schloss Schmitt seinen Vortrag. "Wake up, join the show."

Auch Schmitt zieht es vor, nur wenig über sich selbst preiszugeben. Sein Alter verrät er genauso wenig wie seinen echten Nachnamen. Bevor er vor einem Jahr Vollzeitaktivist bei Wikileaks wurde, arbeitete er in der IT-Security-Branche. Ein Interview mit der taz vor 10 Tagen fand in einer schlecht besuchten Imbissstube statt. Schmitt erschien mit schwarzem Pullover, Cargohose und Doc Martens. Eine Stunde nahm er sich Zeit und beantwortete konzentriert und freundlich Fragen über Wikileaks und die Verschlüsselungstechnologie. "Wir sind idealistisch ohne Ende", sagte er. Doch wer außer ihm und Assange arbeitet bei Wikileaks mit? Geheim. Wo stehen die Server? Irgendwo in Schweden, Belgien, den USA und einer unklaren Zahl an weiteren Ländern.

Genauer werden die Wikileaks-Leute nicht. Und genau das ist der unauflösbare Widerspruch: Wikileaks will radikale Öffentlichkeit - und bleibt selbst im Schatten. Trotzdem ist das Projekt das momentan spannendste, das das Internet zu bieten hat. Sergei Brinn und Larry Page haben mit Google revolutioniert, wie Wissen erschlossen wird. Mark Zuckerberg hat mit Facebook revolutioniert, wie Freundschaft und Kommunikation stattfindet. Ex-Hacker Julian Assange und seine Mitstreiter haben sich vorgenommen, die Regeln von Öffentlichkeit, Medien und Demokratie zu revolutionieren.

Es ist ein bisschen wie in dem amerikanischen 80er-Jahre-Film "Revenge of the Nerds", wo sich Computerfreaks an den etablierten College-Boys rächen. Mit Wikileaks knöpfen sich die Nerds nun die ganze Welt vor.

Erst vor etwas mehr als drei Jahren wurde die Plattform gegründet. Und doch sind bereits beeindruckende Dokumente durch sie öffentlich geworden, darunter Unterlagen zur Bankenkrise in Island, das Gefangenlager in Guantánamo und das Tanklaster-Bombardement von Kundus. "Wikileaks hat in kurzer Zeit wahrscheinlich mehr Scoops produziert als die Washington Post in den letzten 30 Jahren", schreibt die Zeitung The National aus Abu Dhabi.

Sequenz aus dem veröffentlichten Video. Bild: ap/wikileaks.org

Und doch haben die etablierten Medien Wikileaks lange ignoriert, vor allem in Deutschland. Kaum jemand hat sich für die Schätze auf der Seite interessiert. Und wurden die Dokumente doch mal aufgegriffen, hieß es oft: "Im Internet sind Dokumente aufgetaucht …" Im Internet. Wikileaks wurde noch nicht mal erwähnt. Das hat sich mit dem Bagdadvideo schlagartig geändert: 4,5 Millionen Menschen haben allein in den ersten 72 Stunden bei YouTube das Video "Collateral Murder" gesehen. Es war der endgültige Durchbruch.

Auch Hans Leyendecker, einer der bekanntesten investigativen Journalisten in Deutschland, hat Wikileaks lange kritisch beäugt. Das Bagdadvideo hat seine Einschätzung verändert. Kein Text der Welt könne den Irrsinn des Irakkrieges besser beschreiben als dieses Dokument. "Das große Räsonieren, für was man eine solche Seite überhaupt braucht, erscheint da nur noch kleinkariert", sagt der SZ-Journalist.

Leyendeckers Pendant in Großbritannien, David Leigh, hat Wikileaks vor zwei Jahren noch eine "obskure Gruppe von Träumern" genannt. Heute nennt er sie "eine ziemlich erfolgreiche Gruppe von Träumern". Er sieht in Wikileaks nun so etwas wie Verbündete im Kampf um die Wahrheit.

Leighs Zeitung, dem Guardian, wurde im vergangenen Jahr gerichtlich untersagt, über einen Bericht zu schreiben, der einen Giftmüllskandal des Ölmultis Trafigura in der Elfenbeinküste beschrieb. Auf Wikileaks konnte der Bericht erscheinen - und kein Gericht der Welt konnte es verhindern.

Ein radikales Projekt

Wikileaks ist ein radikales Projekt. Das Ziel ist völlige Transparenz. Die Privatsphäre und die Sicherheitsinteressen einzelner Staaten sind nachrangig. Selbst privater Mailverkehr kann öffentlich werden. Doch genau dieser Kampf für radikale Transparenz macht es Kritikern leicht, die Geheimniskrämerei von Wikileaks anzuprangern. So kritisiert Thomas Leif, Vorsitzender der Journalistenvereinigung Netzwerk Recherche, das "Transparenzvakuum" von Wikileaks und dessen Machern. "Ihre Anonymisierungsneurose kostet sie viel Glaubwürdigkeit."

So verständlich das Interesse ist, sich selbst und vor allem die Quellen zu schützen: Man würde doch gerne erfahren, wer alles an der Plattform beteiligt ist, die die Geheimnisse der Welt lüftet - und welche Interessen sie womöglich verfolgen. Dasselbe gilt für die Mechanismen, nach denen Wikileaks Dokumente freigibt. Einerseits sagt Wikileaks, sobald die Echtheit eines Dokuments feststehe, werde es veröffentlicht, ohne Wenn und Aber. Andererseits hat Wikileaks-Gründer Julian Assange einmal in einem Interview gesagt: "Ich treffe die letzte Entscheidung, ob das Dokument echt ist."

Konsequent zu Ende gedacht müsste irgendwann auf Wikileaks ein Dokument auftauchen, das die Namen der angeblich nur fünf Hauptamtlichen und um die 1.000 freien Mitarbeiter offenlegt. Es wäre der endgültige Beweis, dass Wikileaks funktioniert - und gleichzeitig womöglich das Ende des Projekts.

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