Harte Nüsse

SCHRIFTEN ZU ZEITSCHRIFTEN Linke Autoren suchen dringend Anschluss an die Protestbewegungen

Die Verbindungen der Linken zu gegenwärtigen Aufständen ist brüchig geworden, es fehlt an Solidarität

Gerade war man noch damit beschäftigt zu verfolgen, was in Tunesien für den schnellen Erfolg der Gegner von Zine El Abidine Ben Ali gesorgt hat und was die Demonstranten sonst noch wollen, da gingen auch schon Tausende in Ägypten und Jemen auf die Straße.

Da ist „Die Stadt in der Revolte“ doch mal ein thematischer Schwerpunkt zur richtigen Zeit. Und jetzt bitte nicht gleich die Zeitung weglegen, es geht wirklich nicht um Gentrifizierung.

Erschienen ist der Schwerpunkt in der Zeitschrift Das Argument, die mit ihrer über 50-jährigen Geschichte zu den Altehrwürdigen ihres Fachs zählt. Zusammengestellt hat ihn eine Gruppe jüngerer Sozialwissenschaftler und Sozialwissenschaftlerinnen, teils aus der ständigen Redaktion, teils Mitglieder des Berliner Vereins metroZones. Motiviert hat sie, „dass die Verbindungen der Linken zu gegenwärtigen Aufständen brüchig geworden und häufig von Ignoranz und fehlender Solidarität geprägt sind“. Also heftete man sich an die Fersen des Emanzipativen, das sich vielleicht in den Demonstrationen und Besetzungen griechischer Anarchisten seit 2008, den Riots der französischen Vorstadtjugend 2005 oder dem Aufstand der thailändischen Rothemden voriges Jahr ausmachen lässt.

Viele der jüngeren Revolten sind für Linke harte Nüsse, denn ihre Akteure treten weder organisiert auf, noch äußern sie sich explizit linkspolitisch. Die Rothemden zu knacken, die sich nicht einmal antimonarchistisch, geschweige denn antikapitalistsch äußerten und deren favorisierter Regierungskandidat Thaksin Shinawatra selbst auch kein doller Demokrat ist, nimmt Wolfram Schaffar auf sich. Geglückt ist der Versuch nicht. Zu bemüht wirkt der theoretische Aufwand, mit dem am Ende lediglich eine Unterstellung zutage gefördert wird. Dem Protest der Rothemden dichtet der Autor qua ihres Kampfplatzes (des Finanz- und Shoppingmalldistrikts in Bangkok) eine „klassenkämpferische Dimension“ an, und das Werkzeug dazu liefert die „konstruktivistische Raumtheorie“.

Wo sie nur schildern und historische Bezüge herstellen, wie Gregor Kritidis’ Aufsatz zur „Renaissance des Anarchismus in Griechenland“, geben die Texte den tieferen Einblick. Eine regelrechte Ausgrabung stellt in dieser Hinsicht der Aufsatz von Richard Pithouse zu den rassistischen Ausschreitungen des Jahres 2008 gegen schwarze Ausländer in südafrikanischen Slums dar. Mancherorts ist es nämlich, so lässt sich hier erfahren, dank demokratischer Selbstverwaltungsstrukturen in den Elendsvierteln gelungen, sich gegen den aufgebrachten Mob zu stellen. „In mehr als 30 Siedlungen in der Region von Durban und Pietermaritzburg, in denen die Slumbewegung Abahlali baseMjondolo stark ist, kam es zu keinem einzigen Übergriff. Auch die Landlosen-Bewegung in Johannesburg und die Anti-Eviction Campaign in Kapstadt, haben deutlich Position auf Seiten der MigrantInnen bezogen.“

Ganz besonders gelten die eingangs beklagten „brüchigen Verbindungen“ zwischen Linken (man sollte wohl sagen: linken Intellektuellen) und aktuellen Aufständen im Fall von Stuttgart 21. Doch einen meinungsfreudigen Artikel zum Thema sucht man hier vergebens. Den bietet dafür – zusammen mit einer ausführlichen Schilderung des Verlaufs der Bewegung – die jüngste Ausgabe der neuen-alten 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte. Die wird seit einem Jahr nicht mehr gedruckt, sondern ist im Internet unter dem Titel Sozial.Geschichte Online kostenfrei als PDF-Format zu finden. „Wenn in der Deutung der Protestbewegung“, schreibt Alexander Schlager, „oft davon gesprochen wird, diese sei ‚bürgerlich‘, dann steckt darin eine richtige Beschreibung, die von den meisten jedoch falsch verstanden wird. Nicht der Unmut des bourgeois artikuliert sich hier. Es ist der citoyen, der gegen seine Entmachtung auf die Straße geht.“ Der Linken empfiehlt er, „die Demokratiefrage als eine Kernfrage der Gegenwart zu begreifen“. Letzteres jedenfalls ist eine gute Idee, ob mit Blick auf Bangkok oder Athen oder Minsk oder Kairo. CHRISTIANE MÜLLER-LOBECK

Das Argument, Nr. 6/10, Argument Verlag Hamburg, November 2010

Sozial.Geschichte Online, Nr. 4, Duisburg/Essen 2010, http://duepublico.uni-duisburg-essen.de/go/sozial.geschichte-online/2010/04