ARCHITEKTUR DER VERFALLSZEIT
: Jenseits ideologischer Normierung und industrieller Standardisierung

Der französische Journalist und Fotograf Frédéric Chaubin hätte auch in Exjugoslawien fündig werden können, etwa an der Künste Kroatiens, wo man auf hinreißende, inzwischen verlassene und verfallene, weil vornehmlich für das Militär gebaute Ferienanlagen stößt. Mal haben sie die Form übereinander und in den Fels hineingestapelter Betoncontainer, wie sie Chaubin jetzt ähnlich in Tiflis, Georgien, beim Ministerium für Autobahnen fand. Mal erscheinen sie als schwebender Ringbau auf kühnen Betonstelzen hoch über Boden und Meer, wie sie ähnlich Chaubins Fotografie des Erholungsheims Druschba in Jalta, Ukraine (unser Bild), zeigt.

Als „Cosmic Communist Constructions Photographed“ übersetzt er das alte CCCP im Titel seines Bildbands, dessen erstaunliche Motive sich in den Randlagen der früheren Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken fanden. Doch gleichgültig, ob am Mittelmeer oder wie die im Band abgebildeten Bauten, im fernen Kirgisien oder in Estland: Die Anfang der 1970er bis Mitte der 1980er Jahre entstandene Architektur ist immer von hochfahrender Schönheit. Ganz deutlich beflügelt der Geist der Utopie die merkwürdigen Betonkolosse. In ihnen scheinen sich Sci-Fi-Filmarchitektur, Frank Lloyd Wrights „Ennis House“ (bekannt aus „Blade Runner) in Los Angeles und das konstruktivistische Erbe von Konstantin Melnikows Moskauer Rusakow-Club von 1927 zu vereinen. Kurz vor zwölf, als das Imperium schon vor seinem Zerfall stand, zog dieser Geist in Ministerien, Forschungs- und vor allem Sport- und Freizeitanlagen ein. Man darf über den Zeitpunkt spekulieren, ob sich der Freiraum der Architekten damals vergrößerte, wie Chaubin vermutet. Die Zweizimmerwohnung jedenfalls ließ dieser spätsozialistische Geist der Utopie links liegen. Krass steht sein Exzess an formaler Fantasie gegen die Einfalt und Monotonie des sozialistischen Wohnungsbaus. WBG

■ Frédéric Chaubin: „CCCP – Cosmic Communist Constructions Photographed“. Taschen Verlag, Köln 2011, 312 Seiten, 39,95 Euro