Die Koranschulen Senegals: Mit Koran und Konservendosen

Morgens Koranverse lernen, mittags betteln gehen, dann wieder Unterricht. So sieht der Alltag der Koranschüler aus. Wegen Geldmangel der Eltern erfahren die Koranschulen großen Zulauf.

Weil sich viele Eltern nicht leisten können, ihre Kinder auf eine staatliche Schule zu schicken, erfahren die Koranschulen großen Zulauf. Dies könnte zu Radikalisierung führen. Bild: reuters

SAINT-LOUIS/SENEGAL taz Auf der maroden Bogenbrücke, die die vorgelagerte Altstadt von Saint-Louis mit den Wohnvierteln auf dem Festland verbindet, hat wieder einmal ein Laster die von Gustave Eiffel vor mehr als hundert Jahren zusammengeschweißten, jetzt rostigen Bodenplatten durchstoßen. Der Verkehr steht. Hunderte Menschen laufen zu Fuß über die einzige Brücke, die den Senegalfluss überquert, der in der Nähe in den Atlantik mündet. Am Ende der Brücke, wo bunte Minibusse ihre Fahrgäste ausspucken, hupen die Autos. Und noch ein Geräusch durchdringt die chaotische Szene: das Rasseln der Blechbüchsen, die eine Schar von Kindern jedem entgegenhält, der sich durch die Menschenmenge drängt.

Senegal gilt seit seiner Unabhängigkeit 1960 als eine der stabilsten Demokratien Westafrikas. Gefährdet wird die Stabilität durch zunehmende Armut. Die meisten der 12,7 Millionen Senegalesen sind Kleinbauern. Vor allem junge Männer fliehen in die Städte, wo es kaum Arbeit gibt. Der Preis für Reis, das wichtigste Grundnahrungsmittel, hat sich binnen eines Jahres verdoppelt. Viele machen Präsident Abdoulaye Wade (82) für die Krise verantwortlich. Der Staat ist fast bankrott, seit Wade Millionen Euro in Prestigebauten für den Gipfel der Arabischen Liga im vorigen Jahr in Dakar ausgab.

"Ein paar Francs, bitte, nur ein paar Francs!", ruft ein rotznasiger Junge, der kaum fünf Jahre alt ist. "Gib mir Geld", fordert mit forscher Stimme ein anderer Junge, der schon in der Pubertät steckt. Nur selten fällt klingelnd eine Münze in die Konservenbüchsen, die meisten Passanten jagen die Jungs mit einer Geste davon, mit der man eine Fliege verscheuchen würde.

Diese bettelnden Kinder sind Talibés, Koranschüler. Überall im Sahel blühen die Koranschulen, "Daaras" genannt. Auf zwei bis drei Millionen schätzt eine Studie der deutschen Caritas die Zahl der Koranschüler, Tendenz: steigend. Die wachsende Armut auf dem Land führt dazu, dass immer mehr Bauern und andere Verarmte ihre Kinder in die einzigen Ausbildungsstätten schicken, die sie sich leisten können: die Koranschulen.

Die siedeln sich vor allem in den Städten an, wo es genug Almosen zu erbetteln gibt. Denn die Kinder, die oft schon im Alter von vier Jahren in die Daara geschickt werden, müssen für Verpflegung und Unterkunft bezahlen. Allein in Saint-Louis im Norden des Landes gibt es bereits mehr als 350 Daaras.

Eine davon gehört Seydou Sall. Der in leuchtend weiße Gewänder gehüllte Mittdreißiger hat ein Palästinensertuch um die Schultern gelegt und ist der Einzige in dem fensterlosen Klassenraum, der ein sauberes Stück Stoff am Leib trägt. Träge rührt er in einem Becken mit glühender Kohle, auf die er Weihrauch streut, um den Gestank von Schweiß zu überdecken und die Geruchsschwaden von Fisch und altem Fett, die von der Feuerstelle im Hof in das Zimmerchen dringen. "Ich habe mit zwei Kindern angefangen", sagt Sall, der aus einem Dorf im Süden stammt. "Ich war selbst ein Talibé, und die Eltern im Dorf kennen mich. Darum schicken sie immer mehr Kinder zu mir."

Gut vierzig Kinder drängen sich in dem knapp sechs Quadratmeter großen Klassenzimmer. Als sie gleichzeitig beginnen, auswendig gelernte Suren aufzusagen, ist der feuchte Raum, an dem die blaue Farbe von den Wänden blättert, von einer Kakofonie aus hellen Stimmchen erfüllt. Kaum einer der Schüler, die dreckige Hosen und zerlöcherte T-Shirts tragen, ist älter als acht Jahre. Keiner der Eltern zahlt Schulgeld. "Wir leben von der Gnade Gottes", beantwortet Sall die Frage, wie er für Essen und Miete in diesem zentralen Teil von Saint-Louis aufkommt. Konkreter wird er nur ungern.

"Manche machen ein paar kleine Arbeiten, sie pulen Krevetten oder putzen." Zum Spielen haben Talibés keine Zeit. Ihr Tag beginnt vor Sonnenaufgang und endet weit nach Sonnenuntergang. Außer Koranstunden am Morgen und am späten Nachmittag sind Arbeiten und Betteln fest eingeplant, auch wenn Sall übers Betteln ebenso wenig sprechen will wie darüber, dass ein Großteil des Geldes, das die Kinder einnehmen, zur Finanzierung seines Lebens dient; eines Lebens, das sich Sall in seinem Dorf nicht hätte leisten können. Den Kindern ist das bewusst. Fragt man sie, wer einmal seine eigene Koranschule aufmachen will, fliegen alle Hände in die Höhe.

Ihre Eltern sehen die Kinder jahrelang nicht, viele jüngere können sich kaum noch an sie erinnern. "Manchmal kommen sie ihre Kinder besuchen", druckst Seydou Sall herum. Doch die Reise dauert lange und ist teuer.

In aller Regel, weiß Babacar Dioup vom Jugendzentrum "Maison dÉcoute", haben die Kinder außer ihrem Lehrer, dem "Marabout", keine erwachsene Vertrauensperson. "Ich war selbst ein Talibé, 14 Jahre lang habe ich meine Mutter und meinen Vater nicht gesehen", erinnert er sich. "Ich war allein, ich habe viel geweint, und ich wünsche keinem Kind, dasselbe durchzumachen wie ich."

Mit der linken Hand zieht Dioup sein weites Gewand bis zum Knie hoch. "Ich habe heute noch die Narben von den Insektenbissen, der Krätze und den anderen Krankheiten, die ich bekommen habe, weil ich wie die meisten Talibés auf dem blanken Steinfußboden einer dreckigen Hütte geschlafen habe."

Was sich Dioup damals in der Fremde wünschte, war eine Zuflucht. Das von der Caritas unterstützte "Maison dÉcoute", wo Talibés entlaust und medizinisch versorgt werden, wo es eine Tischtennisplatte, einen Fernseher und Duschen gibt, ist genau das. Auf den Boom der Koranschulen ist Dioup, selbst praktizierender Muslim, schlecht zu sprechen. "Von fünf Marabouts sind vier Betrüger, die nutzen die Kinder aus, um selbst ein gutes Leben zu führen", schimpft er. "Diese angeblichen Lehrer haben keine Qualifikation, und es gibt keine Kontrollen."

Nach einer für den Boom der Koranschulen verantwortlichen politischen oder gesellschaftlichen Kraft sucht man allerdings vergeblich. In dem islamisch geprägten, aber laizistischen Land, wo an staatlichen Schulen kein Religionsunterricht stattfindet, beeinflussen die muslimischen Bruderschaften Politik und Wirtschaft. Die bedeutendste Bruderschaft, die Mouriden, predigen eine Art muslimischen Calvinismus: "Arbeit ist Teil der Religion" ist ein Kernsatz des Gründers der Bruderschaft, Amadou Bamba. Seine Anhänger kontrollieren den wichtigen Erdnussexport, den öffentlichen Transport und den informellen Sektor. Ohne ihre Unterstützung wird kein Präsident gewählt.

Doch seit die soziale Not wächst, wächst der Protest - mit Unterstützung der Imame, die etwa zu Protesten gegen die hohen Strompreise aufrufen. Viele befürchten, dass es zu einer Stärkung radikaler Strömungen innerhalb der Bruderschaften kommt, die sich der Koranschulen bedienen könnte.

Zwar verletzen Eltern, die ihre Kinder in die Daaras schicken, die Schulpflicht, doch ein solcher Verstoß wird, zumal auf dem Land, nicht geahndet. Ein Fehler, findet Moussa Sow, der für die senegalesische Kinderhilfsorganisation Claire Enfance arbeitet. "Man muss die Daaras als Parallelstrukturen zu den Schulen anerkennen, damit man Mindeststandards festsetzen kann." Dabei gehe es nicht nur darum, Kindern in Not zu helfen. "In Niger sehen wir bereits Radikalisierungstendenzen", sagt Sow. "Da haben wir eine Masse marginalisierter Armer, die ohne schulische Ausbildung von jeder Perspektive ausgeschlossen bleiben. Das ist eine explosive Mischung."

Unterstützung findet der Kinderschützer bei seinem Namensvetter Serigne Moussa Sow, der selbst eine Koranschule betreibt. Die liegt im besten Viertel von Saint-Louis, seit 1966 bildet Sow hier Kinder aus. Eng ist es auch bei ihm: Um die 113 Kinder beherbergen zu können, die er derzeit unterrichtet, hat er im Hinterhof aus Holzstämmen und Stoffplanen Zelte errichten lassen. Auf den Matten, die den staubigen Fußboden bedecken, müssen die Kinder schlafen und lernen. An den Wänden stehen Holztafeln, auf denen die Talibés mit einer Farbe aus Kohle ständig neue Koranverse aufschreiben.

Sows Schule hat einen guten Ruf. Viele Gelehrte haben bei ihm gelernt - der Grund, warum seine Schüler aus dem ganzen Land kommen und nicht nur aus seinem Heimatdorf. Schulgeld zahlen die Talibés, die ein Marabout generell nicht abweisen darf, dennoch nicht. "Wir finanzieren uns aus Spenden, die die ehemaligen Schüler uns zukommen lassen", sagt Sow. Eine Luxusschule ist seine Daara nicht, aber er hat sich Tricks einfallen lassen, die den Kindern das Leben erleichtern. "Wir haben in der Nachbarschaft einige Mütter, die die Kinder vom Land aufnehmen, die ihnen Frühstück und Abendessen bereiten und für eine Unterkunft sorgen." Das Modell der "Marennes" genannten Frauen ist eine Anleihe bei dem ländlichen Senegal: Dort ist es bis heute üblich, Koranschüler auf diese Weise zu unterstützen.

Kinder unter sechs Jahren nimmt Sow nicht auf. Und im Gegensatz zu den meisten Daaras unterrichtet er außer Arabisch auch Französisch. Als Nächstes will er ein Computerlabor einrichten. "Ich wünsche mir, dass wir zu einem integrierten System kommen, wo Kinder Daaras und Schulen zugleich besuchen können", sagt Sow. Man ist geneigt, ihm zu glauben. Seine Kinder jedenfalls besuchen keine Daara, sondern das Gymnasium.

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