Mexikos Krieg im Inneren: Mit Militär gegen die Drogenmafia

Schon 4400 Menschen wurden allein 2008 in Mexiko Opfer vom Kampf von Drogenkartellen gegen Polizei. Der Staat versucht vergeblich, das Problem militärisch zu lösen.

Erst vor einem Jahr wurden in Mexiko 11 Tonnen Kokain auf einen Schlag gebeschlagnahmt.

Mexiko ist Hauptlieferant für in den USA konsumiertes Marihuana und Heroin. 90 Prozent des verkauften Kokains kommt aus Kolumbien über Mexiko ins Land. 7.000 Menschen starben im Drogenkrieg, seit Präsident Calderóns 2006 sein Amt übernommen hat, durchschnittlich dreimal so viele wie unter Vorgänger Vicente Fox. Vier große Kartelle sind in Mexiko aktiv: das Golf-, das Sinaloa-, das Tijuana- und das Juárez-Kartell. Die Drogenmafia kontrolliert auch die Geldwäsche, den illegalen Waffenhandel und die "Entführungsindustrie". Mexiko-Stadt ist die Metropole mit den meisten Entführungen weltweit; Mexiko ist das gefährlichste Land für Journalisten. Über 40 Reporter wurden seit dem Jahr 2000 ermordet, meist, weil sie im Drogenmillieu recherchiert hatten.

Es war der wohl ungewöhnlichste Unfall, den Mexiko-Stadt je erlebt hat: Am frühen Abend des 4. November zerschellt ein Kleinflugzeug auf einer der großen Straßen im Zentrum der Metropole. Mitten im Berufsverkehr. 14 Menschen sterben, unter ihnen alle acht Insassen des Sportfliegers. Seither streitet die mexikanische Öffentlichkeit über die Hintergründe des Unglücks: Handelt es sich, wie Präsident Felipe Calderón nahelegt, um einen gewöhnlichen Unfall? Oder steckt etwa die Drogenmafia hinter dem mysteriösen Absturz? Davon gehen viele Mexikanerinnen und Mexikaner aus. Und das mit gutem Grund: In der Learjet-Maschine saßen Innenminister Juan Camilo Mouriño Terrazo und der Strafverfolger José Luis Santiago Vasconcelos. Die beiden zählten zu den wichtigsten Personen im Kampf gegen die mexikanischen Drogenbosse.

Ausmaße wie in Afghanistan

Vasconcelos führte bis vor kurzem in der Generalstaatsanwaltschaft die Ermittlungen gegen die Capos. Zweimal schon hatten Killer versucht, ihn zu ermorden. Mouriño galt als rechte Hand Calderóns, der den Krieg gegen die Drogenmafia zur wichtigsten Aufgabe gemacht hat. Noch wenige Stunden vor seinem Tod hatte der Innenminister eingeräumt, dass dieser Kampf "Zeit, Geld und leider auch Menschenleben" koste. Staatschef Calderón, der Mouriño als engen Freund bezeichnete, versprach Aufklärung. Zwar spreche wenig gegen die These eines gewöhnlichen Unfalls, aber "die Regierung von Mexiko hat nicht das geringste Interesse, etwas zu verschleiern".

Seither bemühen sich einheimische Polizisten, das US-amerikanische FBI und britische Experten um Aufklärung. Letzte Funksprüche werden gesichtet, Flugschreiber ausgewertet. Bislang mit mäßigem Erfolg. Auch die jüngste These, nach der das Flugzeug in einen Luftstrudel gekommen sei, wollen viele nicht glauben. Aber sowohl die Selbstverständlichkeit, mit der große Teile der Bevölkerung von einem Anschlag ausgehen, als auch Calderóns Bemühen, diesen Verdacht auszuschließen, machen eines deutlich: Ganz Mexiko traut den Drogenbossen zu, den Staat in seinem Herzen zu treffen. Sollte die Mafia hinter dem Unfall stecken, würde das bestätigen, dass der Staat jetzt auch auf Bundesebene ist, was er in vielen Regionen längst darstellt: ein "failed state", in dem die Capos das Sagen haben. "Es gibt keinen Ort im Land, der nicht von der Gewalt des Drogenhandels beeinflusst ist", resümiert der Journalist Ricardo Ravelo, der wöchentlich in der Zeitschrift Proceso die neuesten Geschichten der Kartelle erzählt.

Ein Blick auf die letzten Wochen bestätigt das: Am Mittwoch wird der Chef von Interpol Mexiko wegen mutmaßlicher Verbindungen zur Drogenmafia festgenommen. Im Bundesstaat Sinaloa sterben an einem Tag 58 Menschen, unter ihnen der Polizeipräsident des Landes. Kurz zuvor werden 35 Mitarbeiter der Generalstaatsanwaltschaft verhaftet, weil sie mit den Kartellen kooperiert haben sollen, der Chef der Bundespolizei tritt aus demselben Grund zurück. Letzten Donnerstag werden im nordmexikanischen Ciudad Juárez zwölf Menschen ermordet, unter ihnen der Polizeireporter Armando Rodríguez. Insgesamt sterben allein in den ersten zehn Monaten dieses Jahres 4.400 Menschen durch die Kugeln von Polizisten, Soldaten oder rivalisierenden Banden - Dimensionen, wie man sie nur von Kriegsschauplätzen wie Afghanistan kennt.

Eine schlechte Bilanz für Calderón. Der konservative Staatschef hatte zum Amtsantritt im Dezember 2006 den "Narcos" den Krieg erklärt. Er schickte die Armee in mehrere Bundesstaaten und in die Städte an der US-Grenze: Tijuana, Ciudad Juárez, Nuevo Laredo. Rund 40.000 Soldaten und Polizisten sind inzwischen im Einsatz, um Hanf- und Mohnfelder zu vernichten oder Transportrouten zu kontrollieren. Der Haushalt zur Verbrechensbekämpfung wurde um ein Viertel erhöht, die Militärs sollen 16 Prozent mehr Geld erhalten. Auch die USA steuern ihren Teil bei, schließlich kommen die meisten der dort konsumierten Drogen aus oder über Mexiko ins Land: Marihuana, Heroin, Kokain. Um den Nachschub zu verringern, stellt Washington dem südlichen Nachbarn im Rahmen der "Initiative Mérida" 1,4 Milliarden Dollar zur Verfügung. US-amerikanische Black-Hawk-Hubschrauber sollen die Überwachung erleichtern, US-Profis sollen mexikanische Polizisten und Soldaten ausbilden.

Warlords kontrollieren das Land

Doch viele misstrauen dem Versuch, das Problem militärisch zu lösen. "Noch nie hat das Militär die Drogenmafia besiegt. Das ist noch nicht einmal der US-amerikanischen Armee in Afghanistan gelungen", erinnert der Historiker Lorenzo Meyer. Zu eng sind die Netzwerke der "Narcos" geflochten. In einigen Regionen kontrollieren die Warlords fast das gesamte soziale, politische und ökonomische Leben: Sie finanzieren Gouverneure, Staatsanwälte sowie Polizisten und verhelfen Jugendlichen, Kleinbauern oder Taxifahrern zu einem Einkommen. Sie bewegen sich völlig frei. So feierte "El Chapo" Joaquín Guzmán, der Chef des Golfkartells, letztes Jahr ganz öffentlich seine Hochzeit, geschützt von einer Armada bewaffneter Leibwächter. Die Polizei traf plangemäß erst ein, als der meistgesuchte Capo Mexikos längst über alle Berge war.

Wer in diesem Ambiente für die falsche Seite kämpft, bekommt es mit der Justiz der Kartelle zu tun. Die Clans verfügen über Killertrupps, deren Brutalität keine Grenzen kennt: Sie hacken ihren Opfern die Köpfe ab, zerstückeln Leichen oder filmen Folterungen und stellen die Aufnahmen ins Internet. Unkontrollierbare Zonen? Nein, meint der Mafia-Experte Ivan Briscoe vom Madrider Think-Tank Fride: "Es handelt sich nicht um Regionen ohne Regierungen, sondern um welche mit alternativen Regierungen, die von den Narcos gestellt werden." Die Clans verfügten dort über so viel Legitimität, so Briscoe, "weil der Staat praktisch abwesend ist".

Die korrupte Struktur hat eine lange Geschichte, die eng mit der einst regierenden Staatspartei PRI zusammenhängt, in deren korporativistischem System Unternehmer, Gewerkschafter und Bauernorganisationen ebenso eingebunden waren wie das Militär und die organisierte Kriminalität. Sie ist aber auch ein Ergebnis der wirtschaftsliberalen Politik Mexikos. Viele Kleinbauern können durch den Freihandel mit den USA und Kanada nicht mehr mit den subventionierten landwirtschaftlichen Produkten aus dem Norden konkurrieren. Folglich setzen zahlreiche Bauern auf den Hanf- oder Mohnanbau, der ihnen den hundertfachen Kilopreis von Mais oder Bohnen verspricht. Und auch lokale Politiker nehmen gerne die Unterstützung der "Narcos" in Kauf, um sich ein sicheres Leben und dem Dorf soziale Mindeststandards zu garantieren, die der Staat längst nicht mehr bietet. Zudem versprechen die Drogenbarone einen Gegenentwurf zur trostlosen Realität: Verarmte Jugendliche verdingen sich als bezahlte Killer und verschaffen sich so ihre Bestätigung in der vom Machismus geprägten Gesellschaft. Dass das "High Life" mit Frauen, Koks und schnellen Autos nur von kurzer Dauer ist, gehört zum Lifestyle.

Tonnenweise Kokain

Gegen solche Verhältnisse fordern Calderóns Kritiker langfristige Maßnahmen anstelle von Feuerwehrpolitik: Justizreformen, Alternativen zum Drogenanbau, Zeugenschutz und eine gerechtere Wirtschaftspolitik. Dass die Polizei Capos verhaftete, tonnenweise Kokain beschlagnahmte und eine Menge Hanf in Rauch auflöste, halten sie für Effekthascherei. "Der Drogenkonsum in den USA hat sich nicht verringert", sagt José Rosario vom Menschenrechtszentrum ProDH aus Mexiko-Stadt. "Aber durch den massiven Einsatz der Armee wurde die Logik des Krieges übernommen." Er verweist auf Fälle, in denen Frauen von Soldaten vergewaltigt wurden. Zudem werde das Militär in aufständischen Regionen stationiert, um gegen soziale und indigene Bewegungen vorzugehen. "Die Armee muss sofort zurückgezogen werden", fordert der Menschenrechtler.

Nicht alle teilen diese Meinung. Seit am 15. September auf einer öffentlichen Feier zwei Handgranaten explodierten und sieben Menschen in den Tod rissen, hat sich die Drogenmafia wortwörtlich mitten in die Gesellschaft gebombt. Bislang spielte sich der Krieg vor allem unter den Beteiligten ab. Mehr oder weniger korrupte Polizisten, Soldaten oder Auftragsmörder schossen sich gegenseitig nieder. Doch seit diesem Anschlag in der zentralmexikanischen Stadt Morelia ist klar: Es kann jetzt jeden treffen. Nun spricht man freimütig darüber, dass gegen die Mafia Folter eingesetzt werden müsse, viele fordern die Einführung der Todesstrafe. Bis zu 60 Prozent der Bevölkerung sind bereit, für mehr Sicherheit ein Stück Freiheit aufzugeben. Calderón wird den Rückenwind zu nutzen wissen. Der Krieg wird weitergehen, und die Mafia ist vorbereitet, wie ein Fund vor wenigen Tagen zeigt: Im nordöstlichen Bundesstaat Tamaulipas stellte das Militär in einem Lager des Golfkartells 540 Schusswaffen, eine halbe Million Patronen, 162 Granaten, einen Raketenwerfer und mehrere vergoldete Pistolen sicher.

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