Wahlkampf vor dem Referendum: Morales verteidigt sein Amt

Kurz vor der Volksabstimmung über seinen Verbleib im Amt macht Präsident Evo Morales nochmal kräftig Werbung für sich selbst. Vor allem auf dem Land.

Bolivien macht Fortschritte mit Evo - das findet zumindest ein Teil der Bevölkerung. Bild: reuters

Morales on tour

Am 10. August entscheiden die Bolivianer in einer Volksabstimmung über den Verbleib im Amt von Staatspräsident Evo Morales, seines Stellvertreters Álvaro García Linera sowie der neun regionalen Präfekten. Das Land ist ökonomisch und politisch in einen reichen Westen und einen armen Osten gespalten. Diewohlhabenden Provinzen des "Media Luna" haben durch Autonomie-Referenden erfolgreich versucht, gegen die Zentralregierung aufzubegehren. Sie fürchten Morales Reformeifer und eine mögliche Bodenreform. Landesweit verfügt Morales aber über breite Unterstützung gerade bei der indigenen Bevölkerung, die in Bolivien etwa 72 Prozent ausmacht. Seine Amtsenthebung am kommenden Sonntag gilt daher als unwahrscheinlich. Sie könnte nur mit mehr als den 53,7 Prozent der Stimmen erfolgen, mit denen Morales am 18. Dezember 2005 zum Präsidenten gewählt worden war.

Javier fährt, wie er lebt: volle Kanne und ohne Unterlass Koka kauend. So wie er es sein ganzes Leben gemacht hat. Oder besser: sein Leben, seit sein Freund und Compañero-Kokabauer Evo Morales in den Wahlkampf trat und mit 54 Prozent der Stimmen die Präsidentschaft in Bolivien gewann. In einem Geländewagen, der einem Raumschiff ähnelt, beschleunigt Javier ohne Erbarmen für die Mägen der Argentinier und des Deutschen, die auf dem Rücksitz Platz genommen haben - just dort, wo "sonst immer der Evo sitzt, wenn es zu irgendeiner Veranstaltung geht".

Heute aber nimmt der erste indigene Präsident Boliviens den Helikopter zu einem Festakt in Omereque, einer kleinen Ortschaft 200 Kilometer südöstlich von Cochabamba. Morales fliegt mit einer venezolanischen Militärmaschine, die ihm, samt Piloten und allem, sein Genosse-Beschützer von der Achse des Bösen bereitgestellt hat: Hugo Chávez. Die Sache ist die, dass Evo Morales, in Orinoca, im Bezirk Oruro geboren, mit seinen 48 Jahren viele Feinde hat. Zu viele selbst für einen alten Gewerkschaftskämpfer wie ihn.

Herr Präsident, wovor haben Sie Angst?

Das kupferfarbene, so gut wie ausdruckslose Gesicht des Anführers des Movimiento al Socialismo (MAS) löst sich für nur wenige Sekunden auf, die Mundwinkel zeigen ein Misstrauen, das er nicht zu verstecken sucht.

Vor nichts. Vor nichts. Ich war in vielen Gefahren. Es wäre ermüdend, davon zu erzählen. … Einige Male retteten wir unser Leben, weil die Kugeln in den Mauern stecken blieben. Vor nichts, Señora, vor nichts.

Wiederholt er. Antwortet er. Ärgert sich. Argwöhnt. Die Sache ist die, dass Journalismus und Journalisten für Evo Morales ein fortwährendes Duell darstellen. Daher meidet er sie. Hält sie auf Abstand und bedenkt jedes Wort, bevor er es in den dünnen Sauerstoff der bolivianischen Höhen entlässt, in seinem monotonen ländlichen Tonfall.

Die Sache ist die, dass Evo Morales in einem Land von außerordentlichen Reichtümern, endlosen Plünderungen für die indigenen Bevölkerungsgruppen der "exzellente Herr Präsident" ist. Aber eben auch "dieser Scheiß-Indio und unkultivierte Kokabauer" für jene aus den bürgerlichen Wohngegenden von La Paz und Santa Cruz de la Sierra, die ihn verachten und ebenso schamlos wie lauthals beleidigen.

Aber heute ist Fiesta in Omereque, und Tausende sind unterwegs. Sechstausend Paare Sandalen, Latschen und ruinierte Mokassins, die seit Sonnenaufgang Wache schieben in einem staubigen Dorf, ohne Bars, öffentliche Toiletten, Zahnärzte, nicht einmal Krankenschwestern gibt es hier, aber zwei Ärzte für Notfälle.

Ein Dorf voller Blumen und wunderschöner Mädchen, voll von hunderten von Jungs, die ihre Schritte für den Umzug vor der Bühne üben, welche man Balken für Balken, Stoffbahn für Stoffbahn, Sitz für Sitz aufbaut. Die zehnjährige Nati Rocha Amés übt ein Gedicht. An ihrer Seite, stolz, ihr Großvater, ein Greis mit nur 42 Jahren, der ihr beim Auswendiglernen hilft. Ringsum warten Frauen mit endlos schwarzen Zöpfen auf Morales, während sie für ihn Halsbänder aus Blumen flechten, ihre Töchter und Enkelinnen frisieren, den Jungs die Latschen säubern.

"Der Evo ist einer der Unsrigen" murmelt Eleuteria. Der Unsrigen, wiederholt ihre Mutter, eine halbblinde Landarbeiterin von unschätzbarem Alter. Die Journalisten erdulden die Verschmutzung ihrer Kameras, die von der Staubwolke der für die Parade Übenden aufgewirbelt wird. Es ziehen Kleinkinder, Grundschüler, Schüler der einzigen Sekundarschule vorüber, ja sogar ein Regiment Marinesoldaten, und das in einem Land ohne Zugang zum Meer.

Wir befinden uns in Bolivien im Jahre null. Oder im Jahre eins, meinen die Anhänger von Juan Evo Morales Ayma, wie sein vollständiger Name lautet: das erste spirituelle Oberhaupt "aller andinen Völker", das nach mehr als tausend Jahren in Tiwanaku gesalbt wurde.

Es ist zwei Uhr mittags in Omereque. Die Sonne sticht und blendet. Die Wassereisstangen in den Händen der Kinder sind ein klebriges Andenken, und die Kugeln aus Kokablättern bei den Erwachsenen wandern mit ungewohnter Unruhe von einer Wange in die andere. Da geschieht das Erhoffte: Der Helikopter mit Morales erscheint am Himmel. Ein Freudenschrei bricht über der gesamten Ortschaft aus. Wenige Minuten später vollzieht sich die Geschichte, die jeder von nun an und in alle Ewigkeiten erzählen wird: Gekleidet in eine schwarze Tracht und seinem klassischen Sakko mit farbiger Bordüre aus Inkamotiven, spaziert Evo Morales zum ersten Mal als Präsident über die Hauptstraße von Omereque. Regungslos weinen Männer und Frauen aus sich heraus, was sie niemals zu träumen wagten. Sie tun es schweigend. Mit erhobenen Händen die Frauen; mit den Hüten vor der Brust die Landarbeiter. Eine der traditionellen Zeremonien der indigenen Völker ergießt sich über Evo: Blaue und weiße Papierschnipsel füllen sein Haar. "Sie werfen Misturas auf ihn", erklärt Wenceslao Rocha, ein gekrümmter winziger Landarbeiter, der bereits zweimal zur Tat schritt und sich für einige Minuten wie der Held des Dorfes fühlt.

Sie schenken "dem Evo" Ponchos, Hüte und Blumengirlanden. Das Orchester versucht einen Militärmarsch, der weder der Bedeutsamkeit noch der Gabe der Tonabstimmung begegnet. Dennoch ziehen die schüchternsten Stäbe schwenkenden Mädchen der Welt vorüber, gehüllt in selbstgemachte Trachten aus rotem und rosa Satin. In ihrem schwarzglänzenden Haar schimmern tausende von Federn. Sie marschieren mit zaghaftem Gang, dass ihre Kleidchen keine Schlüpfer enthüllen.

"Jetzt kommen die alten Männer und Frauen des Dorfes", verkündet der Ansager. Auch sie schreiten aus. Marschieren langsam, mit heruntergezogenen Schultern, aber mit säuberlich gebürsteten Ponchos und Hüten. Die Augen feucht, starr und erfüllt vom Bild des Evo Morales: eines einstigen Landarbeiters wie sie, mit der gelb-rot-grünen Schärpe des Präsidenten.

Morales spricht zu ihnen. Er erzählt ihnen, was "für sie, für das Land, die Nationalisierung der Rohstoffe" bedeutet. Er erklärt ihnen die Bedeutung des Wortes Haushaltsüberschuss. Er schildert ihnen die Inbesitznahme des Ölfeldes von San Alberto, von Petrobrás, die Brasilien und den Rest der Welt zum Staunen brachte, angesichts der Dreistigkeit des exotischen Präsidenten mit seinen bunten Pullovern. Er spricht von den 82 Prozent, die Repsol, YPF, Shell und andere ausländische Firmen einnahmen, und von 18 Prozent, die verblieben. Von der Umkehrung dieser Zahlen und dieser Regeln, die einem besiegelten Schicksal glichen; und dass sie heute Gewinne für die Bolivianer lassen. "Ein Volk aus Bettlern auf einem Thron aus Gold", wie einige Ältere sagen. Die Alten. Die wahren Besitzer der Böden, wenngleich nicht seiner Reichtümer.

Morales setzt seine Rede unter der weißen Sonne von Omereque fort. Man sieht die gekrümmten und steinigen Hügel, wo die Kinder - vorausschauend - die Abreise des Präsidenten abwarten, im ersten Helikopter, den viele von ihnen in ihrem Leben gesehen haben. Morales verspricht nicht mehr, als er gemacht hat. Aber es werde Überraschungen geben. Aber noch zieht er es vor zu schweigen.

Alle wissen, über was er schweigt. Oder glauben es zu wissen. Manche sagen es mit leiser Stimme. Und die Worte schmecken nach einem alten lateinamerikanischen Traum: Landreform. Es ist nämlich so, "die größten Wünsche spricht man nicht aus" flüstert Josefa, eine junge Lehrerin. "Man benennt das Heilige nicht", wiederholt sie, und ihre Bestimmtheit durchfährt einen wie der Blitz.

Wieder Durcheinander, da Evo nun aufbricht. Das gesamte Dorf rennt hinter seinem Geländewagen her. Und einige überholen ihn. Lachend rennen Kinder und Erwachsene vorbei, sie treffen an dem improvisierten Landeplatz ein und setzen sich im Kreis: wie bei einem religiösen Ritus. In vorsichtigem Abstand zu den Rotoren, die sich zu bewegen beginnen.

Nach der Nationalisierung der Rohstoffe, was wird die nächste Reform sein, Präsident Morales?, gelingt mir zu fragen, die Motoren dröhnen schon. Angekündigter Krieg ist verlorener Krieg, folglich … Man darf jenen nichts ankündigen, die sicher nicht wollen, dass etwas geschieht. Aber es wird weitere Maßnahmen geben. Zu Deutsch: Der erste indigene Amtsträger will keine schlafenden Hunde wecken.

Glauben Sie, Entschädigungen für all die Plünderungen in ihrem Land einfordern zu können?, fragt ein deutscher Kollege den erstaunten Präsidenten. Evo zweifelt. Er prüft und verwirft. Es ist zu lange her. Wir haben viel zu tun. Wir meinen, dass Mauern und Visa uns gegenüber nicht gerechtfertigt sind, wo wir damals für ihre Probleme offen gewesen sind. Außerdem: Jetzt ist der Moment, sagt er, zitiert einen Satz aus dem Wahlkampf, bevor der venezolanische Helikopter mit seinen Propellern eine ungeheuerliche braune Wolke erzeugt, aus der alle auftauchen mit schmutzigen Zähnen vom vielen Lachen.

Jetzt - das ist der Schlüssel und das Lieblingswort der bolivianischen Indigenen. Die Nachfahren derjenigen, die zur ersten Gründung Boliviens am 6. August 1825 weder aufgenommen noch eingeladen wurden. Das auserwählte Wort jener, die seit dem 22. Januar 2006, als Morales seinen Eid als Präsident ablegte, sich mit einem Kokabauern identifizieren. Einem, dem sie vertrauen. Dem Ersten in so vielen Jahren von Unterwerfung und Resignation. Ein Morales, so empfindet und wiederholt man in den Armenviertel von La Paz, El Alto, Oruro, Potosí und Villazón, neben vielen anderen Gemeinden, der, ja, sie eingeladen hat zur zweiten Gründung Boliviens. Eine Chance, die, alle wissen es, die einzige und letzte sein kann.

Aus dem Spanischen: Roland Brus

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