Nach dem Erdbeben in Neuseeland: Lyttelton wird weiterleben

Gestern noch Szeneviertel, heute schon Katastrophengebiet: Nach dem Erdbeben mangelt es im neuseeländischen Lyttleton an fast allem. Nicht aber an Zusammenhalt.

Das Haus ähnelt einer Puppenstube, das Auto im Vordergrund ist kaum zu erkennen: Lyttleton, kurz nach dem Beben. Bild: dapd

LYTTELTON taz | Der Pastor steht in der Mittagssonne vor der Feuerwache, neben sich Marinesoldaten. Sie salutieren. Davor Männer und Frauen, schweigend die Arme umeinander oder um ihre Kinder gelegt. Ein Hund zerrt an der Leine, ein Jugendlicher stellt sein Handy aus. Die Gesichter sind müde, viele hinter Sonnenbrillen verborgen. Ziegelstaub klebt auf Shorts und T-Shirts. Für Äußerlichkeiten hat in Lyttelton, das als hippes Kneipen- und Künstlerviertel von Christchurch bekannt ist, gerade niemand Sinn. Geschweige denn genug fließend Wasser.

Seit zwei Wochen ist der historische Hafenort auch dem Rest der Welt ein Begriff - als Epizentrum des Bebens, das am 22. Februar um 12.51 Uhr halb Christchurch zerstört und bisher offiziell 166 Menschenleben gekostet hat. Man befürchtet jedoch über 200 Tote. Im Zentrum der 350.000-Einwohner-Stadt, von Lyttelton durch einen Tunnel und eine Schnellstraße getrennt, liegen eine Woche später noch immer Verschüttete unter den Gebäuden.

Die Gruppe vor dem Pastor hält eine Gedenkminute ab, denn es ist wieder Dienstag und wieder 12.51 Uhr. Der Geistliche läutet eine Glocke. Es ist die der halb eingestürzten Trinity-Kirche von Lyttelton. "Wir bauen sie wieder auf", ruft er und lacht auf. "Damit ich euch alle wieder mit diesem verdammten Gebimmel aus dem Bett werfen kann!" Es ist wie eine Befreiung.

An der Ecke der abgesperrten Einkaufsstraße von Lyttelton stehen Campingstühle und Schemel unter einem Sonnenschirm. Das einstige Szene-Café "Lyttelton Coffee Company" ist im Freien wieder auferstanden und gibt kostenlos Cappuccino aus. Geld wechselt kaum die Hände - jeder gibt, wo und was er kann: ein Ferienhaus als Notunterkunft, leere Benzinkanister, frische Muffins, Hilfe beim Wegschaufeln von Mauerresten.

Stephen Mateer, der Besitzer der "Coffee Company", lässt Espresso in Becher laufen und erzählt: "Die Struktur unseres Gebäudes steht noch, die Fassade lässt sich reparieren." Für alle, die bereits um das Café und die darum liegenden Kneipen als Herz des 4.000-Seelen-Viertels getrauert haben, ist das die beste Nachricht des Tages: Der Puls von Lyttelton - bunt, international und kreativ - schlägt weiter. Mateer ist aufgekratzt wie selten.

Rettung auf Skateboard

Es ist das Hochgefühl derer, die davongekommen sind. Als ihn die Erdstöße erwischten, fuhr er auf der Passstraße oberhalb Lytteltons. Er sprang aus dem Auto und schaffte es auf seinem Skateboard zwischen herabrollenden Felsbrocken ins Tal. Von solchen Brocken wurden zwei Menschen aus Lyttelton erschlagen.

Auch wenn das improvisierte Straßencafé Normalität verströmt: Es ist noch lange nicht vorbei. Vielleicht geht es jederzeit wieder los. Die Nachbeben hören noch nicht auf. "Wie im Krieg", sagt jemand. "Aber da hat man zumindest einen politischen Feind. Fange ich jetzt an, die Natur zu hassen?" An diesem Morgen hat ein Erdstoß, heftiger als alle anderen in den Tagen zuvor, Angst durch die Adern gejagt. Abkühlen im Hafenbecken wäre jetzt das Richtige. Aber entlang der Küste kann man für lange Zeit nicht mehr schwimmen, weil Abwasser aus der Kanalisation ins Meer gelaufen ist.

Ein paar Eltern organisieren Spiele für die Kleinen. "Hebt zerbrochenes Geschirr auf", schlägt ein Vater vor. "Daraus können die Kinder ein großes Straßenmosaik kleben." Aus all den herabgefallenen Ziegelsteinen der Schornsteine soll ein Pizzaofen für den ganzen Ort gebaut werden. "Community" ist das Wort, das man in dieser Woche, die so viele Leben durchgerüttelt hat, am häufigsten hört.

In einer offenen Garage steht Dee Dawson von der St.-John's-Rettungshilfe. Sie trägt eine Schutzweste, hat Wasserflaschen, einen Korb voll frischer Äpfel und alle Infos: ob der Tunnel nach Christchurch geöffnet ist, dass sich heute Abend die Eltern der Grundschulen zur Lagebesprechung treffen und wann es wieder Eintopf aus der Kombüse gibt.

Es war reiner Zufall, dass ein Marineschiff am "Black Tuesday" im Hafen von Lyttelton lag. Seitdem haben die Uniformierten den Ort umgekrempelt: Verderbliche Vorräte aus dem Supermarkt geschafft, einstürzende Mauern gesichert, Essen ausgegeben, Wassertanks aufgestellt. "Thank God for the Navy", wiederholt Dawson zum dritten Mal. Und erzählt mit vielsagendem Blick, dass beim furchtbaren Erdbeben 1931 im Art-déco-Städtchen Napier auf der Nordinsel auch gerade ein Marineschiff im Hafen lag. Das sei doch göttliche Fügung. "Thank God for the Navy!"

Das fast komplett zerstörte Napier wurde im schönsten Jugendstil wieder aufgebaut und zieht Touristen an. An solche Visionen hält sich auch Lyttelton mit seinen Backstein-Hotels, den Pubs, den Kolonialstilgebäuden, den Trödlern und dem auf der ganzen Südinsel bekannten Öko-Markt verzweifelt fest. Fast jedes Gespräch dreht sich darum: nach vorne denken, nicht den Mut verlieren, wir packen das. Und bloß nicht abhauen. Auch wenn das am Hang thronende Wahrzeichen des Ortes, die historische "Time Ball Station", abgerissen werden muss. Und das Veranstaltungstheater "Harbour Lights". Und und und.

"Gebäude kann man ersetzen, die Menschen nicht"

Matthias Blattner aus Bayern, der seit drei Jahren mit Freundin und kleiner Tochter in Lyttelton lebt, hat gerade mit anderen Helfern zwölf Tonnen Steine weggeschafft. Reine Nachbarschaftshilfe. Aus seinem Häuschen musste er raus, das Auto steckte tagelang im Schlamm der zerborstenen Straßen fest, das Baby schreit im Hintergrund, aber er ist "happy hier", sagt er. Er habe nach wie vor alles, was das Leben in Lyttelton ausmacht: Gemeinschaftssinn, wie man ihn nur aus alten Zeiten oder ärmeren Ländern kennt. "Gebäude kann man ersetzen, die Menschen nicht", sagt der 34-Jährige. "Wir bleiben auf jeden Fall hier. Ist doch keine Frage. Alles, was Lyttelton so cool macht, geht weiter, egal wie kaputt es aussieht."

Viele Christchurcher haben ihre Stadt wie ein sinkendes Schiff verlassen, wenn auch nur vorübergehend, um sich von dem Chaos zu erholen. Andere Viertel, wie der wesentlich wohlhabendere Strandvorort Sumner, sind zurzeit Geisterstädte - mit Dixie-Toiletten und kreisenden Hubschraubern.

Einem Haus am Hafen fehlt die dreistöckige Frontseite, wie bei einer Puppenstube. Ein Lehnsessel steht dort, ein Bild hängt an der hinteren Wand: Stillleben der Zerstörung. Eine Ecke weiter stand der prachtvolle Ballsaal, mit altem Parkett aus Kauri-Holz und Retro-Möbeln, unersetzbar in einem Land mit so kurzer Geschichte. Dort hat halb Lyttelton vor einem Jahr ein rauschendes Fest gefeiert. Am Samstag nach dem Beben riss der Bagger die eingestürzten Reste des Saales ab. Einige der Schaulustigen schluckten ihre Tränen hinunter. Das Ganze wurde untermalt von der Musik, die von der Gemeindewiese herüberschallte.

Es war der Tag, an dem in Lyttelton ein großes Straßenfest hätte stattfinden sollen, wie jedes Jahr, mit Live-Musik in sämtlichen Bars. Wie alles in der komplett gelähmten, durch den Schock und die zusammengebrochene Infrastruktur zum Stillstand gekommenen Stadt war an solche Festivitäten im Laufe der Erdbebenwoche nicht mehr zu denken.

"Kommt zum Picknick"

Doch am Samstagmorgen machten SMS-Botschaften die Runde: "Kommt auf die Wiese zum Picknick. Bringt ein Lied, ein Gedicht, eure Tränen, euer Lachen." Innerhalb von Stunden war halb Lyttelton dort, wo sonst samstags ein Flohmarkt stattfindet. Eine Band spielte, noch eine, immer weiter, bis in die Nacht. Über hundert Menschen tanzten versunken, tranken Wein aus Plastikbechern, teilten sich die aufgetauten Reste aus den Kühltruhen von daheim und redeten, redeten, redeten.

Kinder spielten mit dem, was sie im Bauschutt fanden, Bauchtänzerinnen und Jongleure traten auf. "Bauchtanz?", fragt ein Freund aus dem ausgestorbenen Strandort Sumner später entgeistert. "Only in Lyttelton." Für die, die zwischen Tunnel, Hügeln und Hafen in trügerische Sicherheit eingebettet sind, klingt das wie ein Mantra: nur in Lyttelton. Dem Rest der Stadt zeigen, wie man aus Ruinen aufersteht und dabei auch noch Spaß hat. Die schwarze Wolke aus Trümmern und Tragik, anfangs so verstörend und beängstigend, hat plötzlich einen silbernen Rand bekommen.

"Das war wie Gruppentherapie", sagt Simon Riley von Volcano Radio, der mit seiner Freundin das spontane Zusammentreffen der Trümmermusiker organisiert hatte. "Fast wie früher." Er grinst, aber gequält. "Am nächsten Tag hat sich einer der Nachbarn über den Lärm beschwert." Der Kraftakt der letzten Tage und Wochen hat ihn mitgenommen. Er braucht eine Pause von all der Arbeit. In anderen Vierteln würde das Beispiel Lyttelton jetzt Schule machen: "Picknicks, Get-Together. Die haben schon unsere Musiker vom letzten Samstag gebucht." Dann steigt er ins Auto. Endlich mal raus, so schrecklich schön es auch ist.

Von Anke Richter erschien bei Kiepenheuer & Witsch zwei Tage nach dem Erdbeben die Auswanderersatire "Was scheren mich die Schafe", die in Lyttelton spielt. Sie liest im taz-Café Berlin am 28. März um 19 Uhr.

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