L'État c'est moi (I): Die Kultur der Achtsamkeit

Welche Macht hat der Staat noch? Und was hat das mit uns zu tun? Serie zur Wahl. These 1: Die Fragen der Zukunft lassen sich nicht mit den Erfahrungen der Vergangenheit lösen.

Der Staat musste reichlich Euro in die Banken schießen: Skulptur vor der EZB in Frankfurt. Bild: dpa

Einen Augenblick lang sah es während der Finanzkrise so aus, als erlebe der Staat eine Renaissance und der Neoliberalismus seinen Showdown. Inzwischen zeigt sich: Auch diese Krise ist bloß eine weitere Runde in der Externalisierung von Kosten und der Privatisierung von Gewinnen, wenn auch spektakulärer als je zuvor.

Tatsächlich wird die gigantische Staatsverschuldung die Spielräume der staatlichen Institutionen noch viel enger machen als bislang. Und obwohl der Planungsstaat auch angesichts des Klimadesasters als Ausweg herbeigewünscht wird, wird er schon aus wirtschaftlichen Gründen nicht kommen.

Das ist auch gut so. Er ist weder demokratietheoretisch wünschenswert noch zukunftsfähig, da Planer sich notwendigerweise am Gegebenen orientieren. Und das ist in einer Phase fatal, in der nicht nur gesellschaftliche Teilbereiche wie die Wirtschaft, das Gesundheits- oder das Bildungssystem in der Krise sind, sondern das Bezugssystem dieser Krisen, die atlantisch-kapitalistische Kultur der Ressourcenübernutzung, selbst an eine Funktionsgrenze geraten ist. Es geschieht etwas Neues, das sich mit bewährten Verfahren nicht meistern lässt, wahrscheinlich nicht einmal zureichend beschreiben.

Planungen sind in Phasen verdichteter Veränderungen und beschleunigter Veränderungsgeschwindigkeiten so starr und unflexibel, dass sie immer dazu tendieren, Fehlentwicklungen fortzuschreiben, wenn sie sie erstmal in Gang gesetzt haben. Daher ist der Planungsstaat keine Lösung, sondern Teil einer gesellschaftlichen Problemlage, die auch dadurch entstanden ist, dass zu viele Fragen und Entscheidungen aus dem politischen Gemeinwesen ausgelagert und der professionellen Politik und der Expertokratie überlassen worden sind. Das muss dringend anders werden.

Die Organisationspsychologen Karl Weick und Kathleen Sutcliffe haben vor zwei Jahren ein interessantes Buch darüber geschrieben, wie Unternehmen lernen können, das Unerwartete zu managen. Ihre Erkenntnisse haben sie aus der Analyse von sogenannten High-Reliability-Organisations gewonnen - Institutionen, bei denen das Eintreten unerwarteter Ereignisse nicht einfach nur unangenehme, sondern katastrophale Folgen haben kann. Beispiele dafür sind Atomkraftwerke, Flugzeugträger, Feuerwehren, Krisenteams, die bei Geiselnahmen eingesetzt werden, Katastrophenschützer et cetera.

Die Arbeit in solchen Organisationen zielt vor allem darauf ab, dass bestimmte Ereignisse nicht eintreten - weshalb eine ganze Reihe von Eigenschaften, die in anderen Organisationen als wertvoll gelten, hier problematisch sind: Jede Form von Routine etwa ist ein Problem, weil sie die Sensibilität in Bezug auf sich abzeichnende oder ankündigende Probleme unterminiert.

Erfahrung hält man daher für problematisch, weil sie dazu führt, dass man ein Ereignis vorzeitig als etwas sieht, was schon einmal vorgekommen ist und was man daher so und so behandelt - ein häufig tödlicher Fehler. "Erfahrung an sich", schreiben Weick und Sutcliffe, "ist noch kein Grund für Sachkenntnis", sie kann im Gegenteil zur Falle werden. Nämlich dann, wenn etwas so aussieht wie ein Ereignis, das man kennt, in Wahrheit aber etwas ganz anderes ist - die beiden größten Störfälle in Atomkraftwerken, die Beinahe-Kernschmelze in Harrisburg und der GAU in Tschernobyl sind entstanden, weil die Mannschaften den Fehler falsch interpretierten.

Erfahrung kann auch in anderen Zusammenhängen tödlich sein. Die europäischen Juden unterlagen einer verhängnisvollen Fehleinschätzung, als sie annahmen, dass das, was die Nazis vorhatten, jenem Typ von antisemitischer Ausgrenzung und Verfolgung entsprach, den sie schon seit 2.000 Jahren kannten. Und die Abteilungen beim CIA, bei der Polizei und bei der National Guard, die sich mit Terrorismusbekämpfung beschäftigten, hatten jede Art von Bombenanschlag auf ihrer Liste des Erwartbaren, nicht aber die Möglichkeit, dass Terroristen Flugzeuge kapern und in Waffen umfunktionieren könnten, die in ihrer Wirkung jede Bombe übertrafen.

Erfahrungen sind dann hilfreich, wenn man es mit Vorgängen zu tun hat, die jenen gleichen, an denen man die Erfahrungen gemacht hat - für die zutreffende Einschätzung präzedenzloser Ereignisse sind Erfahrungen oft irreführend. Auch Planungen sind nach Daten und Abläufen entwickelt, die man schon kennt, und daher haben sie oft die verhängnisvolle Wirkung, haargenau an jenen Anforderungen und Aufgaben vorbeizuführen, die man anzugehen hätte, um ein unerwartetes Problem zu bewältigen.

"Das uneingeschränkte Streben nach Vorausschau mittels Planung und Forschung kann gefährliche Folgen haben", schreiben Weick und Sutcliffe. "Es unterstellt ein Maß an Verstehen, das man unmöglich erreichen kann, wenn man es mit unsicheren und dynamischen Verhältnissen zu tun hat. Es vermittelt den Beteiligten die Illusion, sie hätten die Lage im Griff, und macht sie blind für die reale Möglichkeit einer Fehleinschätzung."

Für den Umgang mit Unerwartetem kommt es vor allem darauf an, Sensorien dafür zu entwickeln, dass sich etwas ankündigt oder abzeichnet, das die routinemäßige Behandlung sofort überfordern würde - das heißt, es geht darum, misstrauisch gegenüber der Erfahrung zu sein und die Phänomene immer aufs Neue in Augenschein zu nehmen. Und es geht auch darum, auf Unerwartetes nicht mit Rückgriff auf "bewährte" Rezepte zu reagieren, sondern so schnell wie möglich die unterschiedlichsten Kompetenzen zu versammeln, die zu einer zutreffenden Problembeschreibung und -analyse beitragen können. Denn häufig fehlt es gerade daran: zu erkennen, welches Problem überhaupt vorliegt.

Nehmen wir die Klimaerwärmung: Dabei handelt es sich in vielerlei Hinsicht um ein in seinen Dimensionen und Eigenschaften neues Problem, das nicht mit dem Rückgriff auf alte Gedanken zu lösen ist und sicher nicht mit dem Drehen an den üblichen Stellschrauben - ordnungspolitische Maßnahmen, Konsumanreize, technische Verbesserungen - in den Griff zu bekommen ist. Um hier auch nur zu einer hinreichenden Problembeschreibung zu kommen (von einer "Lösung" noch ganz zu schweigen), ist eine Kultur der Achtsamkeit vonnöten, die nicht alles, was einem in die Optik kommt, in die Kategorien des schon Bekannten und Gewussten einsortiert.

Achtsamkeit bedeutet eine permanente Prüfung und Überarbeitung bestehender Erwartungen, dazu eine erhöhte Aufmerksamkeit auf mögliche Fehler und Abweichungen - kurz: ein permanentes Lernen in einer Umgebung, die in ständiger Veränderung begriffen ist. Achtsamkeit ist nichts anderes als die stetige Aktualisierung seiner Beobachtungen, aber was sich so schlicht anhört, hat einen Paradigmenwechsel in den Prioritäten zur Voraussetzung, nach denen man handelt: Wie Erfahrung hinderlich ist und Pläne problematisch sind, so gelten nun Fehler nicht als schlecht, sondern als eminent wichtige Quellen von Informationen - Informationen darüber, welchen Lauf die Dinge nehmen können.

Achtsamkeit, die die Aufmerksamkeit auf das Unerwartete, das Ungewisse, das Widersprüchliche richtet, wird ein für die Wahrnehmung und Steuerung gesellschaftlicher Veränderungsprozesse wichtiges Prinzip: Wie Jared Diamond gezeigt hat, bestand einer der Sargnägel gescheiterter Gesellschaften gerade darin, in Krisensituationen jene Handlungsstrategien zu intensivieren, mit denen sie lange Zeit erfolgreich waren, anstatt flexibel auf die sich verändernden Anforderungen zu reagieren.

Wenn also Ökonomen im Angesicht der größten Weltwirtschaftskrise seit - ja, seit wann eigentlich; vielleicht hat sie ja keinen Vergleich? - darauf verweisen, dass Wirtschaft prinzipiell von Zyklen geprägt ist (what goes down, must come up), schließt das die Möglichkeit aus, dass es nun nur down und nicht mehr up gehen könnte.

Ist das hilfreich, wenn man über Wege aus der Krise nachdenkt? Wenn Techniker darauf verweisen, dass es noch immer gelungen sei, neue Energiequellen aufzutun, weshalb sich unsere Probleme durch bessere Verfahren der Energieerzeugung lösen ließen - haben sie dann das Problem richtig beschrieben? Jemand, der achtsam ist, würde sagen, die Frage der Energieerzeugung ist der Frage nach dem Energiebedarf nachgeordnet, also sollten wir erst darüber nachdenken, wozu wir Energie brauchen, bevor wir die Ingenieure machen lassen.

Die sind von ihren Machbarkeitsfiktionen und Plänen ohnehin so eingeschränkt, dass sie nie an die Kollateralschäden und die nicht beabsichtigten Folgen denken, die ihre Innovationen anscheinend grundsätzlich mit sich bringen - man denke da nur an die Probleme, die der Biosprit nach sich zieht. Oder überhaupt an die unerwarteten Folgen der Industrialisierung: An den Klimawandel hatte niemand gedacht, als die Schornsteine noch rauchten.

Wenn Politiker und Planer keine Ahnung haben, mit welcher Art von Krise sie es zu tun haben, dann wissen sie logischerweise auch nicht, wie sie zu managen ist. Wäre es nicht produktiver, das zu sagen, als mit dem Verfahren von Versuch und Irrtum (Lehman pleitegehen lassen, Hypo Real Estate retten) scheinbar zu steuern und schließlich bei absurd kontraproduktiven, weil veränderungsfeindlichen Lösungen zu landen wie der Abwrackprämie oder der Auflistung von Steueroasen (als seien die das Problem, wenn die Ackermänner dieser Welt verkünden, Umsätze und Gewinne ließen sich jährlich um 25 Prozent steigern).

Als der G-20-Gipfel im April 2009 beschloss, die Finanzmärkte besser zu regulieren, war das so wenig ein Arbeiten an den Problemen wie der frivole Beschluss der Bundesregierung, eine "Schuldenbremse" ab dem Jahr 2020 einzuführen.

Statt Illusionen von rationaler Planung zu erzeugen, würde eine Kultur, die achtsam auf die Anzeichen heraufziehender oder die Fakten bestehender Probleme ist, eher dazu neigen, nach dem Nicht-Bekannten in dem zu suchen, was aussieht, als kenne man es - nach dem also, was den Erwartungen nicht entspricht, vor allem nach dem, was Konsequenzen nach sich zieht, die unumkehrbar sind.

In nicht achtsamen Kulturen wird weiter an Dingen herumverbessert, die selbst das Produkt einer Fehlentwicklung sind, anstatt zurückzugehen zu dem Punkt, an dem diese Entwicklung angefangen hat, und noch einmal neu zu starten - man denke nur an die Groteske der pausenlosen Gesundheitsreformen, die alles schlechter machen, als es vorher schon war.

Achtsamkeit ist in diesem Sinn ein Instrument zur Sicherstellung der Reversibilität von Entscheidungen, um verhängnisvolle Entwicklungspfade und Eskalationswirkungen systematisch zu vermeiden. Eine Gesellschaft, die sich für ihre Fehler und Fehlentwicklungen interessiert und weiß, dass ihre Entwicklung dynamisch und nicht vollständig planbar ist, die Erfahrung für hinderlich hält bei dem Versuch, das Unerwartete zu erkennen, ist eine in Echtzeit lernende Gesellschaft, und genau die brauchen wir, weil das, was wir zu bewältigen haben, das Unerwartete ist, das wir noch gar nicht im ganzen Umfang erkannt und beschrieben haben. Eine solche Gesellschaft ist jedem Planungsstaat prinzipiell überlegen, weil sie im Gegensatz zu diesem auf Veränderungsanforderungen flexibel und schnell reagieren kann.

Die Planungsutopien aus dem 20. Jahrhunderts haben uns drastisch darüber belehrt, dass der Planungsstaat im günstigsten Fall versagt und im ungünstigsten in Unfreiheit und Totalitarismus endet. Planungsstaaten sind in Zeiten ungeheuer dynamisierter Wandlungsprozesse nicht geschmeidig genug, Zukunftsanforderungen angemessen zu beantworten - dafür ist eine lernende, auf Reversibilität in ihren Entscheidungen angelegte Gesellschaft notwendig. Eine solche erfordert erheblich mehr bürgerschaftliches Engagement, als in der demokratischen Kultur der Gegenwart zu sehen ist.

Nächsten Mittwoch: Die Soziologin Saskia Sassen über die drückende Übermacht der Exekutive - und wie das zu ändern ist.

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