Stimmen zur Stimmabgabe: So wählen taz-Redakteure

Selten war der Wahlkampf so gelähmt wie dieses Mal. Selten wurde so intensiv darüber diskutiert, wohin man denn nun sein Kreuzchen machen soll. Acht Stimmen aus der taz.

Ene, mene, muh. Bild: dpa

Pirat ohne Schiff

Oh, was für eine Aufregung. Ich würde Populisten das Wort reden, wurde ich beschimpft. Als unreifes Kind, das seiner Pubertät noch nicht entwachsen sei, als jemand, der seine Bürgerpflicht wohl nicht ernst nehme. Wahrscheinlich sei ich Ossi und habe mich noch nicht an diese unsere Republik assimiliert. Was war geschehen: Ich bin Mitglied in einem Mailverteiler für Computerspieler und es gab eine Diskussion darüber, wieso die Politik Themen wie Urheberrecht im digitalen Zeitalter und Freiheit im Internet so sträflich vernachlässigt. Ich schrieb: Wählt doch Piraten, dann bewegt sich vielleicht was. Dann gings los - ich war ein taktischer Wähler und damit schlimmer als Kim Jong Il.

Wählen gehen bedeutet in Deutschland offenbar Schwerstarbeit im Steinbruch, man schleppt seine Kiepe voller Wackersteine mit zerfurchter Miene ins Wahllokal und wirft sie den gestrengen Urnenaufsehern vor die Füße. Kein Wunder, dass darauf immer weniger Menschen Lust haben. Nun hat die Piratenspitze sich mit der Jungen Freiheit eingelassen - das ist erlaubt, aber für mich ein Problem. Ich würde eine linksemanzipatorische Partei wählen, derzeit scheinen die Piraten aber die Freien Wähler des Internets verkörpern zu wollen - Klientelpolitik mit gleichzeitigem "Wir machens mit jedem"-Approach. Kann man machen - ohne mich.

Daniel Schulz, 30, Redakteur taz Inland

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Die Grundrechte

Ich lebe in dem Zipfelchen des Prenzlauer Berges, der zum Wahlkreis Friedrichshain/Kreuzberg gehört, weshalb Christian Ströbele der Direktkandidat meiner Wahl ist. Er tritt als Abgeordneter für die Grundrechte ein und kümmert sich auch - wie im Fall der Inhaftierten der globalisierungskritischen Demo in Genua - vor Ort um die Opfer staatlicher Willkür. Ein seltenes Exemplar politischer Unabhängigkeit, auch gegenüber seiner eigenen, der grünen Partei. Gegen sein Alter habe ich aus naheliegenden Gründen nichts einzuwenden. Ich bin selbst ein alter Sozialist, und dies schon lange auf freiem Fuß, also ohne Parteibindung.

Bis einschließlich 1998 habe ich grün gewählt, davon hat mich die Zustimmung der Grünen zum Jugoslawien-Bombardement und zu Hartz IV geheilt. Für mich ist die Idee des Sozialismus untrennbar mit der Entfaltung freier Individualität verbunden. Von einer solchen Haltung ist die Partei "die Linke" noch eine ganz schöne Wegstrecke entfernt. Dennoch werde ich mit der Zweitstimme für "die Linke" stimmen. Ich teile viele ihrer politischen Positionen überhaupt nicht. Für mich ist sie aber eine lern- und deshalb entwicklungsfähige Kraft auf Seiten der Linken (ohne Anführungsstriche), die zunehmend weniger vom Beton realsozialistischer Herkunft beschwert wird.

Christian Semler, 70, taz-Autor

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Lernfähigkeit

Ich habe mich entschieden, ich wähle SPD. Meine Kriterien sind einfach: Ich wünsche mir, dass Deutschland sozial rücksichtsvoller und ökologisch klüger wird. Beides. Dafür braucht es eine große Partei, die beides wenigstens ansatzweise will und die lernfähig ist. Das ist für mich am ehesten die SPD. Ja, eher als die Grünen. Grüne wählen ist für mich wie Müll trennen. Ich fühle mich kurz wohl, aber was passiert dann wirklich mit dem Müll? Wird er am Ende doch verbrannt? Genauso wenig weiß ich, an wen die Grünen meine Stimme verscherbeln würden. Siehe Hamburg, siehe Saarland, siehe einst Rot-Grün.

Wenn es darauf ankommt, ist den Grünen soziale Rücksicht nicht ganz so wichtig. Schröder ist mit seiner Agenda-Politik ja nicht bei den Grünen auf Widerstand gestoßen, sondern in der SPD. Und die hat dazugelernt. Sie hat jetzt den Mindestlohn und immerhin einen guten Minister, Sigmar Gabriel. Die SPD wurde in der großen Koalition wieder linker. Natürlich auch wegen der Linken. Schön, dass es die gibt. Aber sie wählen? Da muss ich leider immer noch an einen Berliner Linken-Senator denken, der schweigend danebensaß, als Stasi-Veteranen schwadronierten. Und ich vermisse bei der Linken Gabrielsches Engagement in der Umweltpolitik. Also SPD.

Lukas Wallraff, 39, Chef vom Dienst

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Mein Herz ist rot

Zukunft braucht Herkunft, so lautet ein Sprichwort unter Historikern: Ich komme aus dem Ruhrgebiet, genauer gesagt aus Herne (ja, genau, die Stadt, aus der auch Franz Münteferings Freundin Michelle Schumacher stammt). Wer aus dem Pott kommt, ist quasi von Geburt an Sozialdemokrat. CDU? Geht gar nicht, Verrat an unseren Ursprüngen! Die Grünen? Meine Eltern waren lange Grünen-Mitglieder, war irgendwie schick. Sie bekommen meine Erststimme, für meine Zweitstimme finde ich sie noch nicht erwachsen genug.

Natürlich sind mir die - teilweise auch sehr nachvollziehbaren - Einwände gegen die Sozialdemokraten bekannt: Frank-Walter Steinmeier sei blass, ihm fehle das Schröder-Gen. Scheinbar ständig wackelt der Parteivorsitz, die Genossen beantworten Zukunftsfragen nicht konkret genug. Diese Liste ließe sich endlos fortführen - aber eine Wahl ist eben nicht nur eine Kopf-, sondern auch eine Herzensangelegenheit. Wir dürfen die Republik nicht den Merkels und Westerwelles überlassen. Noch schlimmer: den Gysis und Lafontaines. Die SPD könnte am Sonntag sogar den Rang einer Volkspartei verlieren, aber das will ich mit meiner Stimme verhindern. Denn man darf nicht vergessen: Wir haben keine Volksparteien in Reserve.

Cigdem Akyol, 30, Redakteurin taz zwei

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Dunkelgrün

Ich habe mit beiden Stimmen die Grünen gewählt. An zwei Namen mache ich diese Entscheidung fest: Renate Künast und Christian Ströbele stehen - jeder für sich - für eine unorthodoxe linke Geschichte, für herausragende Politikerpersönlichkeiten, aber auch für unkorrumpierbare Realpolitik. Renate Künast ist für mich Pop, das, was früher Finanzminister Eichel war. Eine Politik der Vernunft und des besseren Arguments. Ströbele hat einen Rest Freak unter seiner Anwaltsrobe.

Jahrzehntelang habe ich für die SPD gestimmt. Das wurde mir in meiner Zeit in Hamburg gründlich ausgetrieben, wo die SPD ein von Diadochenkämpfen zerrüttetes Häufchen Elend war, das am liebsten die Rote Flora räumen würde. Die SPD verpasste es, sich für Kreative und Prekarier ein tragfähiges und zukunftsfähiges Konzept auszudenken. Die amtierende SPD-Justizministerin kennt sich auch noch nicht mit dem Internet aus. Vielleicht wird das wieder besser, wenn dereinst Franziska Drohsel zur ersten SPD-Bundeskanzlerin gewählt wird. Mit den Stimmen von Grünen und Linken, die bis dahin weniger infantile EU-Politik betreiben. Ich wage mir nicht auszumalen, auf welcher Technikgaleere dann die Piraten angeheuert haben. Nerds sind jedenfalls bei den Grünen besser aufgehoben.

Julian Weber, 42, Redakteur taz Kultur

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Aus Mitleid SPD

Keines der denkbaren Resultate, die wir bekommen werden, wird irgendetwas ändern. Es gibt keine Partei, die sagt, die Steuern müssen dringend angehoben werden, vor allem bei den extrem Wohlhabenden; eine, die fordert, dass Industriehilfen strikt an Ökologisierung geknüpft werden; keine, die fordert, dass Milliarden im oberen zweistelligen Bereich in den Ausbau der Bildungsinstitutionen gefeuert werden.

Es gibt keine Partei, die sagt, so industriell-eilig-patriarchal wie bislang geht nix mehr. Die Grünen vielleicht, aber die verachten insgeheim jene, die malochen müssen und nicht so globaleingeweihtwissend sind wie sie selbst. Union und FDP? Kein Vertrauen. Die Linken? Im westlichen Mainstream noch nicht anschlussfähig. Und die SPD? Stirbt sie gerade? Vielleicht. Erschöpft von elf Jahren am Ruder und zu wenig Liebe durch jene, die nicht verstehen, warum es nicht geht. Sie soll sich erholen, diese Partei. Sie ist die einzige, die das Ökologische aus der Nische bringen kann. Man wird diese Partei brauchen. Ich werde sie wählen. Mitleid ist kein politischer Grund, aber es ist ein besserer als ein Nichtwählen.

Jan Feddersen, 52, taz-Redakteur für besondere Aufgaben

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Kein Gefasel

Raffaele Cantone, Ex-Antimafia-Staatsanwalt, wird den Rest seines Lebens unter Personenschutz verbringen. Fragt man ihn nach dem Wert der Zivilcourage und der repressiven Macht des Staates im Kampf gegen die Camorra, wirkt er leicht genervt. Erziehung, Bildung, Veränderung der Mentalität, mehr Polizei und Soldaten - schön und gut; aber das eigentliche Problem seien die Mechanismen des Konsenses, welche die Mafia in den von ihr beherrschten Territorien herstelle - und zwar durch ihre Verflechtung mit der Wirtschaft und mit der Politik. Auf der rein technisch-militärischen Ebene sei der Kampf gegen die Mafia überaus erfolgreich, aber solange die Mafia kein Gegenspieler, sondern Teil des Systems (ein unangenehmes Wort, ich weiß) sei - tja … Trotzdem, sagt Cantone, für seine Berufswahl sei das Gefühl ausschlaggebend gewesen, sich seine persönliche Würde zu bewahren.

Meinem Bedürfnis, es in Zeiten der Weltfinanzkrise nicht bei Mäßigungsappellen und Gefasel von neuen Werten zu belassen, ist am besten mit einer Stimme für die Linkspartei Genüge getan. Dass ich damit einen in der "Linken" verbreiteten Antizionismus mitwähle, der im besten Fall von dem ihm innewohnenden Antisemitismus nichts wissen will - das ist so.

Ambros Waibel, 41, Redakteur taz Meinung

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Links ist gut

Es gibt ja viele, die sagen, man müsse taktisch wählen. Etwa so: Wer Schwarz-Gelb verhindern will, muss Grün wählen. Gegen die Fortsetzung von Rot-Schwarz hilft nur Gelb. Klar, so kann mans machen. Ich bringe das nicht übers Herz. Wählen hat ja was mit Überzeugungen zu tun - auch wenn das ein bisschen oldschool klingen mag. Und wie könnte ich eine Partei wählen, die Hartz IV erfunden hat und die Rente mit 67, die meint, "wir" müssten "unsere" Interessen am Hindukusch verteidigen? Warum sollte ich mein Kreuzchen bei einer Partei machen, die vielleicht mal pazifistisch war, aber als Regierungspartei einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg zugestimmt hat?

Im Prinzip kann jeder, der einigermaßen linke Positionen vertritt, nur die Linke wählen. Sie fragen sich, was heute - wir sind ja alle so postideologisch - noch "links" ist? Auf einen Punkt gebracht: Links sein heißt, der Überzeugung zu sein, dass Politik nicht den Interessen der wirtschaftlich Mächtigen dienen sollte. Sondern dass die Politik der Wirtschaft Vorgaben machen muss - und zwar mit dem Ziel, Gerechtigkeit herzustellen. Was das heißt, sollten SPD, Grüne und Linke miteinander diskutieren. Am besten auf den Oppositionsbänken.

Susanne Gannott, 40, Redakteurin taz Berlin

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