NRW nach Urteil des Verfassungsgerichts: Abwarten und Zeit gewinnen

Trotz aller Spekulationen: Auch nachdem der rot-grüne Nachtragshaushalt 2010 für verfassungswidrig erklärt wurde, dürfte NRW nicht unmittelbar vor Neuwahlen stehen.

Ist nach wie vor guter Dinge: Nordrhein-Westfalens Ministerpräsidentin Hannelore Kraft. Bild: dapd

KÖLN taz | Nach dem Münsteraner Verfassungsgerichtsurteil wird wieder kräftig über baldige Neuwahlen in Nordrhein-Westfalen spekuliert. Doch wahrscheinlicher sind sie deswegen nicht geworden. Nachdem ihr Nachtragshaushalt 2010 für verfassungswidrig erklärt wurde, übt sich die rot-grüne Minderheitsregierung vielmehr in demonstrativer Gelassenheit.

Auch die Rufe nach Neuwahlen der schwarz-gelben Opposition sind inzwischen wieder etwas leiser geworden, als sie es noch vor dem für sie so erfreulichen Richterspruch waren. Und die Linkspartei hat sich ohnehin stets dagegen ausgesprochen.

Das verwundert nicht. Denn zum gegenwärtigen Zeitpunkt kann keine der fünf im Düsseldorfer Landtag vertretenen Parteien ein übermäßiges Interesse an einem schnellen Urnengang haben. Gleichwohl schien noch vor ein paar Tagen alles darauf hinzustreben, nachdem der SPD-Landtagsfraktionsvorsitzende Norbert Römer den Eindruck vermittelt hatte, die SPD strebe umgehend einen vorgezogenen Urnengang an, falls die schwarz-gelbe Opposition auch gegen den Landeshaushalt 2011 vor das Verfassungsgericht ziehen sollte.

Doch von einem solchen Automatismus will Ministerpräsidentin Hannelore Kraft inzwischen nichts mehr wissen. "Das werden wir alles in Ruhe abwarten“, weicht sie entsprechenden Fragen aus. Kein Wunder, wäre eine erneute Verfassungsklage von CDU und FDP gerade nach dem Urteil vom Dienstag ein denkbar schlechter Grund für Neuwahlen. Wer will schon unbedingt als "Schuldenkönigin" und "Verfassungsbrecherin" in den Wahlkampf ziehen.

Auch wenn die politische Großwetterlage zur Zeit günstig für SPD und Grüne erscheint und die beiden Parteien nach den letzten Umfragen mit einer absoluten Mehrheit rechnen können, wäre das ein unnötiges Risiko. Außerdem arbeitet die rot-grüne Koalition aufgrund des konstruktiven Verhaltens der Linkspartei auch ohne eigene Mehrheit im Parlament bislang erstaunlich reibungslos.

Die CDU sitzt in der Zwickmühle

Aber auch für die drei Oppositionsparteien würde ein Urnengang zum jetzigen Zeitpunkt ein unkalkulierbares Risiko bedeuten. Linkspartei und die FDP werden von den Demoskopen bei gerade 5 Prozent taxiert. Sie müssten also um ihren Wiedereinzug ins Parlament bangen. Die CDU, die sich nach dem Ende der Ära von Jürgen Rüttgers unter ihrem neugewählten Landesvorsitzenden Norbert Röttgen gerade erst frisch aufstellt, kann ebenfalls nicht damit rechnen, gestärkt aus Neuwahlen hervorzugehen. Denn sie befindet sich in einer Zwickmühle.

Auf dem CDU-Landesparteitag am Samstag in Siegen verkündete Röttgen, die Verschuldung des Landes zu der "Grundauseinandersetzung" in NRW machen zu wollen. Doch die Planung, mögliche Neuwahlen mit einem derartig monothematisch ausgerichteten Wahlkampf gewinnen zu können, ist ein in mehrfacher Hinsicht heikles Unterfangen.

Zum einen setzt sie ein kurzes Gedächtnis der Wählerinnen und Wähler voraus. So ärgerlich das Landesverfassungsgerichtsurteil für Rot-Grün auch ist und CDU-Landtagsfraktionschef Karl-Josef Laumann sogar von einem "historischen Urteil" schwadronierte: Es ist keineswegs so einzigartig, wie CDU und FDP nun glauben machen wollen. So handelten auch sie sich 2007 eine schwere Niederlage in Münster ein.

Wie jetzt wieder, erklärten seinerzeit die Verfassungsrichter den nach der schwarz-gelben Regierungsübernahme 2005 aufgestellten Nachtragshaushalt des damaligen CDU-Finanzministers Helmut Linssen wegen einer nicht hinreichend begründeten Überschreitung der Kreditgrenze für verfassungswidrig. Damals hatte die SPD-Landtagsfraktion geklagt.

Tatsache ist, dass auch die Vorgängerregierungen regelmäßig gegen die in der Landesverfassung festgeschriebene Kreditfinanzierungsgrenze verstoßen haben. So war nur zweimal in den vergangenen zehn Jahren nach Angaben des Landesrechnungshofes die Neuverschuldung niedriger als die Summe der Investitionen. Allerdings gab es in diesen beiden Jahren, 2007 und 2008, auch die höchsten Steuereinnahmen in der Geschichte des Landes. Heute dagegen liegen die Steuereinnahmen über drei Milliarden Euro niedriger.

Zum anderen bestreitet die CDU zwar, dass es gegenwärtig eine "Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts" gibt, die eine Überschreitung der Regelverschuldungsgrenze von 3,77 Milliarden Euro rechtfertigen würde. Aber sie verzichtet aus gutem Grund darauf, ihre Vorstellungen offenzulegen, wie sie gegenüber dem rot-grünen Etatentwurf für 2011 stolze 3,3 Milliarden Euro einzusparen gedenk. Denn ein solcher Kraftakt wäre ohne drastische soziale Einschnitte nicht möglich. Schließlich würde auch die Wiedereinführung der unpopulären Studiengebühren gerade mal 249 Millionen Euro bringen. Das wäre also nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein.

Atomkatastrophe und Gewerkschaften machen der CDU das Leben schwer

Entsprechend haben SPD und Grüne bereits angekündigt, im Falle von Neuwahlen die Auseinandersetzung darüber führen zu wollen, in welchem Land die Bürgerinnen und Bürger künftig leben wollen: einem sozial und ökologisch ausgerichteten Nordrhein-Westfalen - oder einem Land, das aus ideologischen Gründen kaputt gespart wird. Unterstützung für ihre Regierungslinie erhalten sie dabei von den Gewerkschaften. "Die Landesregierung muss ihren Kurs fortsetzen und mehr Geld in Bildung und Soziales investieren", kommentierte der DGB-Landesvorsitzende Andreas Lauber am Dienstag denn auch den Münsteraner Richterspruch. "Daran darf das heutige Urteil nichts ändern."

Allerdings ist ohnehin fraglich, ob es angesichts der japanischen Atomkatastrophe der schwarz-gelben Opposition bei einer Neuwahl noch in diesem Jahr gelingen könnte, die Schuldenfrage zu dem zentralen Wahlkampfthema zu machen. Denn die deutsche Atompolitik bewegt derzeit auch die Menschen in NRW wie keine andere. Und das bringt den christdemokratischen Frontmann Röttgen schwer in die Bredouille.

Auf dem Siegener Parteitag hatte der Bundesumweltminister noch jegliche Diskussionen über die Sicherheit und Laufzeit der AKWs in Deutschland als "völlig deplatziert" brüsk abgekanzelt - unter dem Beifall der Delegierten. Getrieben von den aktuellen Ereignissen, geriert er sich seitdem von Tag zu Tag atomkritischer. Besonders glaubwürdig wirkt das nicht. Auch die Entscheidung, die Laufzeitverlängerung ausgerechnet für drei Monate auszusetzen, birgt für Röttgen eine große Gefahr. Das Ende der Frist liegt nur einen Monat vor jenem Termin, den seine Partei als Datum für mögliche Neuwahlen in NRW ins Gespräch gebracht hat, dem 17. Juli. Wenn dann der eine oder andere Schrottreaktor wieder hochgefahren wird, sieht es ganz düster für ihn aus.

Trotz allem: Nach wie vor spricht viel dafür, dass die derzeitige Landesregierung nicht die volle Legislaturperiode amtieren wird. Die Versuchung dürfte für SPD und Grüne schlicht zu groß sein. Allerdings werden sie sich nicht von der Opposition den Zeitpunkt diktieren lassen, wann sie die Bürgerinnen und Bürger an Rhein und Ruhr vorzeitig zur Urne rufen. Dafür haben sowohl Ministerpräsidentin Hannelore Kraft als auch ihre grüne Stellvertreterin Sylvia Löhrmann bislang viel zu klug und besonnen agiert.

Gut denkbar, dass sie sich im Herbst einen passenden Grund suchen, um zu versuchen, endlich die von ihnen ersehnte absolute Mehrheit zu erringen. Das Atomthema steht dann sicherlich immer noch auf der Tagesordnung. Aber das Münsteraner Verfassungsgerichtsurteil liegt dann lang genug zurück, um keinen größeren Schaden mehr anzurichten. Die Linkspartei wird höllisch aufpassen müssen, nicht in die Falle zu gehen und Rot-Grün den passenden Vorwand zu liefern.

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