Nach den Bomben auf afghanische Tanklastzüge: Karsai verurteilt Befehl zum Angriff

Afghanistans Präsident hält die Operation für eine "Fehleinschätzung". Und die Bundeswehr wirft der US-Armee vor, Fehlinfos zu streuen - als Retourkutsche für vergangene Kritik. Die Zahl der Toten bleibt unklar.

Dorfbewohner betrauern die frisch bestatteten Opfer des Luftangriffs vom Freitag. Bild: rtr

KABUL/OSNABRÜCK/BERLIN/KÖLN afp/dpa/ap Der afghanische Präsident Hamid Karsai hat den von der Bundeswehr angeforderten Luftangriff bei Kundus als "Fehleinschätzung" kritisiert. Er frage sich, weshalb nicht Bodentruppen eingesetzt wurden, um den von den Taliban entführten Tanklastwagen zurückzubekommen, sagte Karsai der französischen Tageszeitung Figaro.

"Mehr als neunzig Tote für einen einfachen Tanklaster, der obendrein in einem Flussbett feststeckte!", sagte Karsai dem Figaro. Während der Oberbefehlshaber der US- und NATO-Truppen in Afghanistan, Stanley McChrystal, detaillierte Angaben zu dem Angriff vermied und eine umfassende Untersuchung ankündigte, sagte Karsai, McChrystal habe sich bereits entschuldigt. Zudem habe McChrystal darauf verwiesen, dass er den Angriff nicht selbst angeordnet habe, sagte Karsai.

Die Angaben zu den Opfern des Angriffs fallen widersprüchlich aus: Lauf Angaben des Distrikt-Gouverneurs von Char Darah seien mindestens 135 Menschen getötet worden, darunter auch Kinder. Die Washington Post hatte von 125 Toten berichtet, darunter zwei Dutzend Zivilisten.

Gouverneur Abdul Wahid Omarkhel hatte am Montag erklärt, er habe eine Liste der Opfer erstellt und der Delegation von Präsident Hamid Karsai übergeben, die den Vorfall untersucht. Es sei unklar, wie viele der Toten Zivilisten gewesen seien. Unter den Opfern sei aber eine große Anzahl Kinder im Alter zwischen zehn und 16 Jahren.

Der Luftangriff hatte zu schweren Verstimmungen innerhalb der NATO-Truppe ISAF geführt. Wie die Neue Osnabrücker Zeitung am Montag berichtete, reagierten hochrangige deutsche Militärs empört über "offenbar von den USA gezielt gestreute Fehlinformationen in einem laufenden Untersuchungsverfahren". Grund sei unter anderem die Berichterstattung der Washington Post, in der schwere Vorwürfe gegen den deutschen Kommandeur des Bundeswehrlagers in Kundus, Oberst Georg Klein, erhoben wurde.

Nach Ansicht deutscher Militärs sei der Bericht eine "bodenlose Frechheit", berichtete die Neue Osnabrücker Zeitung. Entgegen üblichen Verfahren habe das siebenköpfige NATO-Untersuchungsteam von US-General Stanley McChrystal einem US-Journalisten erlaubt, die Ermittlungen zu verfolgen. "Das stinkt zum Himmel", sagte ein Bundeswehr-Angehöriger dem deutschen Blatt. "Offensichtlich ist Oberst Klein das Bauernopfer, um das deutsche Engagement in Afghanistan zu diskreditieren."

Die Washington Post berichtete unter Berufung auf das NATO-Erkundungsteam, der deutsche Oberst habe den NATO-Angriff auf der Grundlage von nur einer Quelle befohlen. Nach der neuen NATO-Strategie zur Vermeidung ziviler Opfer muss einer solchen Entscheidung demnach immer mehr als eine Quelle zugrunde liegen.

Die NATO-Truppe ISAF wies den Bericht zurück. NATO-Experten würden den Vorfall in der nordafghanischen Provinz Kundus derzeit noch untersuchen, sagte ISAF-Sprecher Eric Tremblay. Es seien noch keine Untersuchungsergebnisse übermittelt worden. Auch stehe die Zahl der Opfer noch nicht fest.

In den vergangenen Jahren hätten sich zwischen den Verbündeten viele Verstimmungen aufgebaut, nicht zuletzt wegen der oft von deutscher Seite getätigten Kritik an dem militärischen Vorgehen der USA, berichtete die Neue Osnabrücker Zeitung unter Berufung auf deutsche Militärkreise. "Das ist die Retourkutsche", hieß es dort. Zudem gebe es das Gerücht, dass die USA die Deutschen aus Kundus "herausekeln wollten".

Der Luftangriff stieß international auf scharfe Kritik. So sagte Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn gegenüber der Tageszeitung Die Welt: "Es muss doch Regeln geben, wann Bombeneinsätze geflogen werden. Wir sind doch nicht in Afghanistan, um zu erobern, sondern um zu helfen und Demokratie aufzubauen". Bereits der französische Außenminister Bernard Kouchner hatte den Angriff am Wochenende als "großen Fehler" bezeichnet. EU-Außenkommissarin Benita Ferrero-Waldner sprach von einer "großen Tragödie".

Verteidigungs-Staatssekretär Christian Schmidt entgegnete im ARD-"Morgenmagazin" auf die Bemerkungen aus dem Ausland: "Auch die Außenminister sollten die Untersuchungen abwarten". Und Verteidigungsminister Franz Josef Jung (CDU) verteidigte den Angriff erneut. Es habe klare Hinweise gegeben, dass die Taliban die beiden Tanklastzüge in ihre Gewalt gebracht hätten, um einen Anschlag auf den Bundeswehr-Stützpunkt in Kundus zu verüben, sagte er der Bild am Sonntag. Es seien "ausschließlich terroristische Taliban getötet worden". Die Bundeswehr beziffert die Zahl der Toten auf "mehr als 50".

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat eine zügige und umfassende Aufklärung der Vorgänge um den Luftangriff gefordert. "Wenn es zivile Opfer gegeben hat, dann werde ich das natürlich zutiefst bedauern", sagte Merkel am Sonntag bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem britischen Premierminister Gordon Brown. Zugleich sagte die Kanzlerin den Bundeswehrsoldaten in Afghanistan ihre "politische Unterstützung" zu.

Auch Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) forderte eine rasche Untersuchung des Luftangriffs. Der Vorfall müsse "schnellstmöglich und rückhaltlos" aufgeklärt werden, sagte Steinmeier der Berliner Zeitung. Es müsse deutlich gemacht werden, dass alles getan werde, um zivile Opfer zu vermeiden.

Grünen-Verteidigungsexperte Winfried Nachtwei warf Verteidigungsminister Jung "absolutes Versagen" vor. Jung unterschätze völlig die politisch-psychologische Wirkung des verheerenden Luftangriffs in Kundus, sagte Nachtwei der Frankfurter Rundschau.

Der frühere Verteidigungsminister Volker Rühe (CDU) nannte Jungs Informationspolitik ein "Desaster". Dem Hamburger Abendblatt sagte Rühe, es müsse jetzt eine "totale Offenlegung der Entscheidungsprozesse von deutscher Seite" geben.

Unterdessen hat die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses des Bundestags, Ulrike Merten (SPD), eine Sondersitzung zu dem Luftangriff gefordert. Sie werde den Mitgliedern des Gremiums eine außerordentliche Sitzung vorschlagen, damit die Obleute über die Hintergründe des Angriffs informiert würden, sagte Merten am Montag dem WDR. Auch Mertens ließ an der Informationspolitik von Verteidigungsminister Franz Josef Jung (CDU) kein gutes Haar: "Die Informationen, die ich bisher habe und auch die Obleute des Verteidigungsausschusses, sind ganz knapp gefasst gewesen. Und das ist wirklich zu bemängeln."

Jung habe sich am Wochenende in den Medien auch in Details zu dem Einsatz geäußert, die der Verteidigungsausschuss bislang nicht erfahren habe, sagte Merten. Sie wolle die Sondersitzung des Gremiums bei einer regulären Sitzung am Dienstag in Berlin vorschlagen. "Das halte ich aus gegebenem Anlass für richtig, damit wir uns nicht auf Spekulationen weiter verlassen müssen, denn das ist mehr als unglücklich", sagte Merten, die im Schattenkabinett von Frank-Walter Steinmeier für Verteidigungspolitik zuständig ist. Es sei ein "Problem", dass Jung und die NATO unterschiedliche Angaben über zivile Opfer gemacht hätten. Nun müsse deutlich gemacht werden, was bei dem Einsatz passiert sei, forderte Merten.

Kanzlerin Merkel hat bekräftigt, dass Deutschland, Großbritannien und Frankreich die Einberufung einer internationalen Afghanistan-Konferenz noch in diesem Jahr unterstützen. Die Konferenz solle klären, in welchem Zeitraum welche Ziele erreicht werden sollen. Die einzelnen Partner müssten wissen, welche Aufträge sie zu erfüllen hätten. So müsse geklärt werden, wieviele Soldaten Afghanistan künftig brauche und wieviele Polizisten ausgebildet werden müssten.

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