IG Metall: Die McKinseys von der Gewerkschaft

Um Jobs zu retten, weicht die IG Metall immer wieder vom Flächentarifvertrag ab. Ehe dies geschieht, schickt sie ihre Wirtschaftsprüfer in die Firmen. Manche von den Chefs ausgemalte Krise erweist sich plötzlich als Bluff.

Die Niederlage im Arbeitskampf im Osten 2003: Ein Glücksfall für die IG Metall Bild: dpa

Die wichtigste Waffe von Martin Schwarz-Kocher ist sein Laptop. Wenn der 48-Jährige ein Unternehmen durchleuchtet, listet er mit dem Statistikprogramm Excel akribisch Kennzahlen auf, prüft Gewinn- und Verlustrechnungen und prognostiziert die künftigen Umsätze. Mit Powerpoint erklärt er seine Zahlen den Betriebsräten und der Geschäftsführung. "Die Wirklichkeit ist ja nur etwas wert, wenn man sie vermitteln kann", sagt er.

Schwarz-Kocher arbeitet wie ein Unternehmensberater von McKinsey. Freilich mit einem bedeutenden Unterschied: Während Firmenchefs Unternehmensberatungen dafür beauftragen, um Personal zu sparen und den Gewinn zu steigern, prüft Schwarz-Kocher für die IG Metall in Baden-Württemberg Betriebe. Sein Ziel ist es, Jobs zu retten. "Unternehmen begründen Kürzungen immer betriebswirtschaftlich. Wenn Betriebsräten hier nicht fundiertes Datenmaterial vorliegt, können sie nur noch auswählen, wo sie nachgeben wollen."

Schwarz-Kocher und seine Kollegen vom Stuttgarter IMU-Institut kennen die Methoden des Gegners. Und schlagen ihn damit, indem sie den Chefs ihre eigenen Fehler vorrechnen. Die McKinseys von der Gewerkschaft geben das beste Beispiel für eine neue Entwicklung: dass die einst als Funktionärsverein verschriene IG Metall näher dran ist an den Betrieben, sie schnell auf Nöte der Branche reagiert und den Mitgliederschwund allmählich in den Griff bekommt. Auf dem Gewerkschaftstag, den die größte Gewerkschaft Deutschlands ab Sonntag in Leipzig veranstaltet, wird Berthold Huber zum neuen Vorsitzenden gewählt. Er übernimmt eine Organisation, die das Schlimmste hinter sich hat.

Zwar bröckelt auch bei der IG Metall die Basis, doch weit weniger dramatisch als bei anderen Arbeitnehmerorganisationen. Gut 2,33 Millionen Metaller waren Ende 2006 organisiert, 44.000 weniger als im Vorjahr. Der Rückgang ist ein Erfolg, Ver.di verlor im selben Zeitraum fast doppelt so viele Mitglieder.

Auf dem Posten des IG Metall-Chefs folgt Berthold Huber (hinten) Jürgen Peters (vorne). Bild: dpa

In der kommenden Woche wird der 57-jährige Berthold Huber Vorsitzender der mit 2,33 Millionen Mitgliedern größten Gewerkschaft in Deutschland. Seine Wahl auf dem Gewerkschaftstag der IG Metall in Leipzig (4. bis 10. November) gilt als sicher. Der bisherige zweite Vorsitzende löst Jürgen Peters nach dessen vierjähriger Amtszeit ab. Im Jahr 2003, nach dem verlorenen Streik im Osten und einem monatelangem Personalstreit, setzte sich der "Traditionalist" Peters noch gegen den "Reformer" Huber durch.

Allerdings wurde damals vereinbart, dass Peters nach vier Jahren den Platz für Huber räumt. Der neue zweite Vorsitzende soll der nordrhein-westfälische Bezirksleiter Detlef Wetzel werden, der ebenfalls als "Modernisierer" gilt. Zwei Posten im geschäftsführenden Vorstand sollen an den Peters-Flügel gehen, nämlich an Hans-Jürgen Urban, den Leiter der Grundsatzabteilung, und an Helga Schwitzer, Bezirkssekretärin in Hannover.

Der alle vier Jahre stattfindende Gewerkschaftstag ist das höchste Beschlussorgan der IG Metall. Neben Personalfragen stimmen die 501 Delegierten (davon 18 Prozent Frauen) über knapp 550 Anträge zu politischen Themen und Satzungsfragen ab. TOK

Einzelne Bezirke wie Nordrhein-Westfalen haben in vielen Verwaltungsstellen sogar den Umschwung geschafft: "Wir haben uns landesweit an eine ausgeglichene Mitgliederbilanz herangearbeitet", sagt der Sprecher der Bezirksleitung, Wolfgang Nettelstroth. Im Jahr 2003 befand sich die Gewerkschaft nach einem blamabel verlorenen Arbeitskampf für die 35-Stunden-Woche im Osten an einem Tiefpunkt. Der rund 600.000 Mitglieder starke nordrhein-westfälische Bezirksverband begann wenig später, offensiv um Arbeiter in Firmen zu werben, Kampagnen für mehr Qualität ("Besser statt billiger") oder gegen Tarifflucht ("Tarif aktiv") folgten. "Eine gut organisierte Belegschaft schließt auf Dauer eben bessere Vereinbarungen ab als eine schlecht organisierte", sagt Nettelstroth.

Diese Niederlage hat sich für die IG Metall als Glückfall erwiesen. Unter dem Druck der Arbeitgeber, die mehr Flexibilität und die 40-Stunden-Woche forderten, stimmte sie 2004 dem "Pforzheimer Abkommen" zu, das Firmen eine Abweichung vom Flächentarif erlaubt. Auf dieser Grundlage können Firmen in Krisen etwa Urlaubs- oder Weihnachtsgeld streichen oder ihre Beschäftigten ohne Lohnausgleich länger arbeiten lassen. Solche Vereinbarungen müssen aber in Absprache mit Betriebsräten getroffen werden. Und das knüpft die Gewerkschaft an Bedingungen: an neue Investitionen, an Garantien für den Standort oder den Ausschluss von Kündigungen. Und an die Zusicherung, in besseren Zeiten zum Tarif zurückzukehren.

Während einst der Funktionär aus der fernen Zentrale im Hinterzimmer verhandelte, sitzt er nun mit den Beschäftigten am Verhandlungstisch. Und rückt dem Geschäftsführer zur Not mit einem Wirtschaftsprüfer wie Schwarz-Kocher auf die Pelle.

Wie das vor Ort aussieht, kann Daniel Friedrich erzählen, Sekretär für Betriebs- und Tarifpolitik beim IG-Metall-Bezirk Küste. Dort wirtschaftet inzwischen jeder fünfte Metallbetrieb mit einer Pforzheim-Regelung.

Bald könnte auch das Kabelwerk Leoni im Städtchen Friesoythe dazugehören. 500 Beschäftigte arbeiten hier. Die Unternehmensleitung schlägt vor, dass die Beschäftigten bei gleichem Lohn künftig länger arbeiten als die tariflich vorgesehenen 35-Stunden. Dafür würde sie neu in den Standort investieren und niemandem kündigen. Die Rendite bliebe gleich - trotz der Neuinvestition.

Eine Versammlung der in der IG Metall organisierten Mitarbeiter wird im November darüber entscheiden, ob mit der Geschäftsführung über den Deal verhandelt wird. Und ein von der IG Metall beauftragter Wirtschaftsprüfer hat die Zahlen gecheckt. "Er wird auch zur Mitgliederversammlung kommen", sagt Friedrich. Auch das ist eine Aufgabe der Zahlenexperten: Sie müssen der Belegschaft erklären, dass man ökonomische Zwänge nicht völlig ignorieren kann.

"Wir machen der Belegschaft schon klar, dass wir für solche Vereinbarungen einen gewissen Organisationsgrad im Unternehmen brauchen", sagt Friedrich. Dafür entscheiden die Arbeiter mit. Das ist für den 31-jährigen gelernten Industriemechaniker ein "ehernes Prinzip". Die Beschäftigten müssten "auf das Spielfeld geholt werden. Die Gewerkschaft darf nicht mehr der alleinige Stellvertreter sein, der da von außen kommt und irgendwas mit der Geschäftsleitung beschließt", sagt Friedrich. Wie in Nordrhein-Westfalen halten sich an der Küste Neueintritte und Verluste inzwischen die Waage.

Natürlich hat das "Pforzheimer Abkommen" auch eine Kehrseite. Durch die Aufweichung des Flächentarifs hat die IG Metall den Arbeitgebern einen Weg eröffnet, den Mitarbeitern Zugeständnisse abzupressen - oder es "mit inszenierten Fakten" zumindest zu versuchen, wie Gewerkschafter Nettelstroth sagt. In zwei Dritteln aller Fälle, in denen Firmenleitungen auf die Bezirksgruppe zukämen, gebe es keinen Anlass. "Manchmal hat der Chef nur auf dem Golfplatz gehört: Da gibt es eine nette Möglichkeit, Personalkosten zu senken."

Zugleich erschließt sich die Gewerkschaft durch die neue Strategie Herrschaftswissen, über das bisher nur Firmenchefs verfügten. Gewerkschaftsprüfer nutzen die Kontakte des Betriebsrates und arbeiten mit den Controllern und Abteilungsleitern zusammen. So mancher Geschäftsführer muss da schlucken. "In kleinen Firmen, in denen der Chef wie ein Patriarch über die Geschicke aller bestimmt, ist das ein Politikum", sagt Schwarz-Kocher. Zumal seine Kollegen und er in den Verhandlungen strikt parteiisch denken. "Betriebswirtschaft ist keine Wahrheitslehre. Es kommt auf die Perspektive an", sagt er. Für ihn hat nicht die Rendite Priorität, sondern die Zukunft der Mitarbeiter.

Vergisst der Unternehmer, der mit einer Produktionsauslagerung nach Polen droht, die Verwaltungs- und Betreuungskosten in der deutschen Zentrale aufzuführen, rechnet Schwarz-Kocher sie unerbittlich vor. Gerade abgeschlossen hat er Verhandlungen mit einem baden-württembergischen Elektrounternehmen. Die Chefetage wollte 420 Mitarbeiter entlassen, ihre Produktion an andere Anbieter vergeben und so die Kosten um die Hälfte senken. Diesen Wert rechnete zumindest eine Unternehmensberatung aus.

Schwarz-Kocher entdeckte in den Zahlen oft benutzte Tricks: "Die Spareffekte waren geschönt. So kalkulierten die Berater, dass die Firma Miete und Betriebskosten spart, wenn mehrere geschasste Angestellte nicht mehr in ihrem Büro sitzen - dabei würde keine Firma einzelne Räume mitten in ihrem Gebäude untervermieten." Nach hitzigen Diskussionen in einer Betriebsversammlung lenkte die Geschäftsführung ein. Das Ergebnis: Nur noch 290 Menschen waren vom Sparplan betroffen, 150 wurden innerhalb der Firma versetzt, der Rest geht in den kommenden Jahren durch normale Fluktuation.

Die Arbeitgeber betrachten die strikt geregelte Abweichung vom Tarif à la Pforzheim deshalb mit gemischten Gefühlen. Einerseits ermöglicht sie den Firmen schnelles Reagieren: Laut Gesamtmetall, den Arbeitgeberverbänden der Metall- und Elektroindustrie, haben 590 Betriebe in Deutschland mit ihren Beschäftigten Abstriche vereinbart, um frisches Geld zu investieren. 300 der Firmen haben die Arbeitszeit erhöht, 290 weniger Lohn ausbezahlt. Bei diesen Investitionsfällen sind allerdings Abkommen zu Sanierungen nicht berücksichtigt. Die IG Metall in Frankfurt verweigerte der taz genaue Zahlen.

Natürlich stört die Bosse das Erstarken der Gewerkschaft. Peter Schlaffke, der Leiter der Tarifabteilung beim Verband Nordmetall, wären Öffnungsklauseln für jeden Betrieb lieber, ohne dass externe Leute wie Schwarz-Kocher zugeschaltet werden. Die Offenlegung der Geschäftsbilanzen "schreckt viele Unternehmen ab", meint er. "Diese Zahlen gehen ja an den Vorstand der IG Metall. Und die Unternehmen wissen nicht, was sonst noch mit diesen Zahlen geschieht."

Derlei Skepsis bekommt Schwarz-Kocher ständig zu spüren. Zwei Dutzend Beratungsfälle wickelt er jährlich ab, manchmal wird er nur für zwei Tage gebucht, manchmal braucht er Wochen. "Die Ankündigung des Betriebsrats, Sachverstand von außen zu konsultieren, wird natürlich nicht mit Jubel aufgenommen", erzählt er. "In Einzelfällen hat sich der Wunsch nach Tarifabweichung auch mal spontan erledigt." Mitarbeit: Thilo Knott

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