50 Jahre nach Contergan-Skandal: Die Wunde bleibt offen

Bis heute kämpfen Contergan-Geschädigte für ihre Rechte. Dafür klagen sie jetzt auch vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof.

Protest vor dem Firmensitz von Grünenthal: Andreas Meyer bei einer Mahnwache im vergangenen Jahr. Bild: dpa

"Ich bin vierfachgeschädigt", sagt Andreas Meyer und schiebt hinterher: "So heißen verkürzte Arme und Beine bei uns." Bei uns, das sind die rund 2.800 Contergangeschädigten, die heute noch in der Bundesrepublik leben. Knapp 4.000 waren es einmal, "viele sind bereits gestorben, wir werden weniger", sagt Meyer.

Contergan, das Wort steht für den größten bundesrepublikanischen Arzneimittelskandal - und für einen Umgang damit, den viele Geschädigte bis heute als skandalös empfinden. Deshalb wollen einige von ihnen Ende August vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) Klage gegen die Bundesrepublik einreichen.

Es ist der 27. November 1961, als die Firma Grünenthal, 1946 gegründet und bis heute im Besitz der Familie Wirtz, das Schlafmittel Contergan mit dem Wirkstoff Thalidomid widerwillig vom Markt nimmt. Zwölf Tage zuvor hatte der Kinderarzt Widukind Lenz Grünenthal dazu aufgefordert. Er führte die steigende Anzahl von Kindesmissbildungen auf Conterganeinnahme während der Schwangerschaft zurück. Bereits 1959 gab es Berichte, dass das Mittel irreversible Nervenschädigungen hervorruft. Im November 1960 kam der Missbildungsverdacht dazu. Für Pharmaunternehmen galt bei neuen Medikamenten damals nur eine "Selbstüberwachung". Erst 1961 trat ein strengeres Arzneimittelgesetz in Kraft, das 1978 ergänzt wurde.

Schon diese Verschleppungen sind für den contergangeschädigten Christian Stürmer ein Skandal. Der zweite besteht für ihn und andere Geschädigte im Umgang mit ihrer Versorgung. "Wir sind mit verbrecherischem Kalkül in die Armut geschickt worden", sagt auch Meyer. 1.116 Euro monatliche Rente erhält er. Es ist der Höchstsatz, aus dem er alles, auch Pflegepersonal, bezahlen soll. Extraleistungen, auf die beispielsweise Impfgeschädigte einen gesetzlichen Anspruch haben, sind für Conterganopfer nicht vorgesehen. Also leben viele von Hartz IV. Doch je älter die Geschädigten werden, desto mehr brauchen sie: "Unsere Körper verschleißen anders als bei Gesunden", erklärt Meyer. 53 Millionen Euro mehr wären jährlich nötig, wollte man angemessene Conterganrenten bezahlen, hat Stürmer errechnet.

Dass sie so wenig bekommen, liege daran, "dass der Staat uns unsere Ansprüche genommen hat", sagt Stürmer. 1971, kurz nach dem Prozess gegen Grünenthal, der aufgrund eines Vergleichs ohne Urteil zu Ende ging, erließ der Bundestag ein Stiftungsgesetz für die Contergangeschädigten. Darin wurde festgelegt, dass mit der Stiftung alle weiteren Ansprüche an Grünenthal erlöschen. Auch der Vergleich wurde hinfällig. "Der Staat wollte verhindern, dass es zu einem Präzedenzfall kommt, bei dem der Verursacher komplett für den Schaden aufkommen muss", sagt Meyer.

So kam die Familie Wirtz, die heute weltweit 5.600 Mitarbeiter beschäftigt und deren Vermögen auf rund 3,5 Milliarden Euro geschätzt wird, billig davon. 100 Millionen Euro hat sie in die Stiftung eingezahlt, 50 Millionen Euro davon erst 2008. Die ausbezahlten Rentenleistungen summierten sich bis 2009 jedoch auf 460 Millionen Euro. 360 Millionen Euro stammen aus Steuermitteln. "Die Bürger bezahlen Grünenthals Zeche", sagt Meyer.

Mitte Juli hat er mit anderen Contergangeschädigten deswegen erneut zu einem bundesweiten Boykott der Dalli-Gruppe aufgerufen, die der Familie Wirtz gehört und Waschmittel und Kosmetika herstellt. Und Stürmer wird Ende August seine Klage gegen die Bundesrepublik einreichen, "weil sie ihren Verpflichtungen uns gegenüber nicht nachgekommen ist".

Grünenthal sieht keinen Grund, erneut in die Stiftung einzuzahlen. Man habe mit den letzten 50 Millionen Euro bereits "einen wesentlichen Beitrag zur Verbesserung der Situation der Betroffenen" geleistet, schreibt das Unternehmen der taz.

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