Kinderarzt über Streit um Frühgeborene: "Eins bringt bis zu 100.000 Euro"

In Deutschland sterben mehr Frühchen als anderswo in Westeuropa. Ein Grund: Vor allem kleine Kliniken wollen mit der teuren Behandlung Umsatz machen, anstatt sie an Spezialkliniken zu überweisen.

"Es fällt Chefärzten schwer zuzugeben, dass ihr Team mit komplizierten und seltenen Fällen überfordert ist." Bild: dpa

taz: Herr Obladen, werden Frühchen bei uns schlecht versorgt?

Michael Obladen: Von den jährlich rund 8.000 Kindern zwischen 400 und 1.500 Gramm Geburtsgewicht stirbt in Deutschland jedes siebte. Jedes fünfte der Überlebenden ist behindert. Wer damit zufrieden ist, kann sich jetzt zurücklehnen. Doch allein das starke Nord-Süd-Gefälle der Überlebenschancen ist ein sehr starker Hinweis, dass es vor allem in Norddeutschland Verbesserungsmöglichkeiten gibt. Im Süden der Republik war die Bereitschaft, solche - meist absehbaren und darum planbaren - Frühgeburten in spezialisierten Zentren stattfinden zu lassen, immer schon größer.

Wo läuft die Frühchen-Versorgung vorbildlich?

Der Kinderarzt (64) war von 1995 bis 2007 Direktor der Klinik für Neonatologie an der Charité in Berlin.

In allen skandinavischen Ländern. Hier ist die Spezialisierung sehr weit gediehen. Ganz Finnland hat fünf so genannte Perinatalzentren. Schlagzeilen hat zuletzt auch Portugal gemacht. Dort gelang es, durch eine Reduzierung der geburtsmedizinischen Kliniken von 200 auf 51, die Sterblichkeit der Frühchen von 27 auf 15 Prozent zu drücken. Das ist ein unglaublicher Fortschritt für ein relativ armes Land, das dadurch auch Deutschland überholt hat.

Ende 2008 beschloss der Gemeinsame Bundesausschuss, dass nur noch Kliniken mit mindestens 12 Fällen im Jahr Frühchen behandeln sollen. Ist das keine Spezialisierung?

Nein. Das verhindert allenfalls die Gelegenheitsversorgung. Wir hatten in Deutschland über 100 Kliniken, die pro Jahr nur ein, zwei oder drei Frühgeborene behandelten. Aber auch mit der Zahl 12 wird keine Professionalität erreicht. Im Schichtbetrieb sehen die Ärzte und Schwestern dann trotzdem bloß zwei oder drei Kinder im Jahr. So kommt keine Übung zustande. Man braucht Erfahrung, um weniger zu machen - um etwa die Beatmungsdauer auf das notwendige Minimum zu reduzieren. Ich befürworte eine Mindestmenge von 35 bis 50 Fällen pro Jahr.

Wer wehrt sich gegen eine höhere Mindestmenge?

Die Deutsche Krankenhausgesellschaft und der Verband der leitenden Kinderärzte als Interessenvertretung der kleinen Kliniken haben eine höhere Mindestmenge bislang verhindert. Hier spielen verschiedene Motive eine Rolle. Durch den starken Geburtenrückgang sind ehemals große Kliniken jetzt eher kleine und unbedeutende Einrichtungen. Das ist bitter. Hinzu kommt Prestigedenken: Es fällt Chefärzten schwer zuzugeben, dass ihr Team mit komplizierten und seltenen Fällen überfordert ist. Schließlich kommt der Druck von den Verwaltungsdirektoren: Ein Frühchen unter 1.000 Gramm Geburtsgewicht bringt 60.000 bis 100.000 Euro.

Ein nennenswerter Umsatz.

Es ist jedoch ein logischer Fehlschluss zu glauben, mit Frühchen Überschuss machen zu können. Man braucht das Geld - vor allem fürs Personal. Die von den Kassen zugebilligte Fallpauschale ist auf Kante genäht. Wer meint, mit Frühchen Gewinn machen zu können, will offenbar Geld für anderes abzwacken und den Kindern etwas vorenthalten.

Diese Woche werden die Mindestmengen-Gegner auf dem Neonatologen-Kongress in Berlin versuchen, den Vorstand der Fachgesellschaft zu entern. Droht dort ein Rückschritt?

Das lässt mich eher ruhig. Ich vertraue darauf, dass die Kinderärzte in ihrer Gesamtheit weiter für die Interessen der Kinder einstehen werden. Wenn das Unwetter vorbei ist, wird die Mehrzahl der Kinderärzte eine vernünftige, differenziert eingeführte Mindestmenge mit strenger Qualitätssicherung hinnehmen.

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