Roger Willemsen über Guantánamo: "Gerne wäre ich weniger emotional"

Dass Herr Schäuble keinem Exhäftling aus Guantánamo Asyl gewähren möchte, findet Roger Willemsen obszön. Man muss es immer wieder sagen, die Häftlinge sind unschuldig.

Auch die deutschen Medien haben bei der Berichterstattung über die Folter von Häftlingen nicht ihre Möglichkeiten genutzt. Bild: dpa

taz: Herr Willemsen, Obama will Guantánamo innerhalb eines Jahres schließen lassen. Innenminister Schäuble erste Reaktion war: Er möchte keinem der Exhäftlinge Asyl gewähren. Wie finden Sie das?

Roger Willemsen lebt und arbeitet in Hamburg. 2002 löste er alle seine Fernseh-Verträge und kündigte an, sich aus dem Medium "bis auf Weiteres" zurückzuziehen. Er ist heute Autor, Amnesty-Botschafter und Schirmherr des Afghanischen Frauenvereins. Für sein Buch "Hier spricht Guantánamo" (2006) interviewte er fünf Exhäftlinge. Für sein jüngstes Werk "Der Knacks" erhielt Willemsen gerade den Rinke-Preis.

Roger Willemsen: Alles andere hätte mich bei Schäuble gewundert. Mich erstaunt eher, dass man sich nun um den Verbleib von 200 Häftlingen sorgt. Es sind ja bereits 800 Häftlinge für unschuldig befunden, entlassen und in die Arme der nächsten Folterern geschickt worden. Die beiden russischen Häftlinge etwa, die ich 2006 interviewt habe, sind sofort auf dem Flughafen in Russland gefesselt, ins Gefängnis verbracht und dort gefoltert worden.

Warum fokussiert man sich jetzt auf die verbliebenen 200 Häftlinge?

Man versucht im Nachhinein, sein Gewissen etwas zu verbessern. Hätte es irgendeinen tatkräftigen Einspruch gegen Guantánamo gegeben, hätte man ja sagen können: Wir kümmern uns um die, die aus dem Lager herausgekommen sind, also wir kümmern uns um das, was sie zu sagen haben, und sorgen zweitens dafür, dass sie unter menschenwürdigen Bedingungen existieren können.

Stattdessen diskutieren wir erneut darüber, wie gefährlich diese Leute wohl sind.

Jetzt stellen wir die Sache mal auf die Füße: Die Amerikaner entließen Leute aus dem Lager, die sie für unschuldig erklärt haben - nachdem sie sie gefoltert haben. Und dann kommt ein deutscher Innenminister und erklärt: Diese Opfer sind bedrohlich, ich möchte nichts mit ihnen zu tun haben. Das ist obszön. Man muss es wieder und wieder sagen: Die sind unschuldig!

Und jetzt gefährlich, just weil ihnen Unrecht getan wurde?

Ach Quatsch! Das sagen auch wieder Leute, die niemals mit irgendjemanden von denen gesprochen haben. Keiner von den Entlassenen ist bislang rhetorisch oder praktisch gegen die USA auffällig geworden. Man stelle sich mal vor, was passieren würde, wenn muslimische Staaten 1.000 westliche und amerikanische Häftlinge ohne Prozess in ein Lager sperren würden, um sie dort zu foltern. Das böte das Potenzial, aus dem dritte Weltkriege gemacht werden.

Warum sperrt sich auch die liberale Öffentlichkeit gegen eine Unschuldsvermutung?

Weil das antimuslimische Ressentiment flächendeckend geworden ist. Ein Gewürzhändler war am falschen Tag am falschen Ort, wird von den Taliban angeschossen und dann von Kopfgeldjägern nach Guantánamo verschleppt - aber niemand gesteht ihm Unschuld zu. Da muss man von Propaganda sprechen. Es tut mir Leid, ich würde gerne mit etwas weniger Emotion über diese Sache reden, aber solches Ressentiment auch hierzulande arbeitet daran mit, dass so etwas wie Guantánamo möglich ist. Die Tatsache, dass das Lager bis heute besteht, zeigt, dass Politik und Öffentlichkeit nicht genug getan haben.

Werden die Medien jetzt umschwenken und dem von Barack Obama beschrittenen Weg folgen?

Bevor wir von einem Weg reden können, müsste sichergestellt sein, dass Obama mit seinem neuesten Beschluss, alle CIA-Geheimgefängnisse zu schließen, auch die Lager in Kandahar und Bagram meint. Dort sind noch mehr Leute umkommen als in Guantánamo. Zwei Häftlinge berichteten mir, sie seien dort auch auf Deutsch verhört worden. Aber das mag offenbar niemand nachrecherchieren. Dabei ist nichts von dem, was die Häftlinge mir gesagt haben, bisher falsifiziert worden. Einer erzählte mir, dass er von seinem Zellenfenster aus auf eine deutsche Fahne gucken konnte. Ich wüsste gern warum? Vielleicht ist es harmlos und es handelt sich nur um einen Flughafen oder Stützpunkt.

Immerhin bedeuten die Schritte von Obama ein offizielles Schuldeingeständnis.

Ein Schuldeingeständnis ist so viel wert wie das Geld, das man für dieses Schuldeingeständnis zahlt. Solange man nicht an erster Stelle sagt: Die dort inhaftierten Männer waren ausnahmslos keine gesetzlosen Kämpfer, sondern haben ein Recht auf einen Prozess und auf Haftentschädigung - solange sehe ich nicht, wie belastbar dieses Schuldeingeständnis der USA sein sollte.

Und die aktuelle Diskussion über ein mögliches Asyl …

… ist Kosmetik auf den letzten Metern. Kümmere man sich doch mal um diejenigen, die jetzt außerhalb von Guantánamo gefoltert werden, weil sie in Guantánamo gewesen sind. Mir kommt es so vor, als wolle die Welt zuletzt und unter der Glorie von Obama, dem das anzurechnen ist, dass er sofort etwas unternommen hat, die Bilanz schönen. Aber an dieser Bilanz gibt es nichts zu schönen, weil diese Welt zugeguckt hat.

In seiner Antrittsrede adressierte Obama die Muslime als Amerikaner. Könnte diese Geste der Versöhnung den Weg für eine Entschädigung ebnen?

Zumindest war es ein wichtiger Aspekt. Es gab sogar eine noch folgenschwerere Aussage. Er hat nämlich mal ganz nebenher gesagt, dass die Gründungsväter Amerikas in Zeiten erheblich größerer Bedrohungen die Freiheit über die Sicherheit gestellt haben. Das waren ansatzweise radikale Gedanken.

Wie ließe sich die Öffentlichkeit jetzt mobilisieren?

Ich hatte früher ein größeres Vertrauen in das Schaffen von Gegenöffentlichkeit.

Warum empört die Äußerungen von Schäuble kaum jemanden?

Alle sind sich einig darüber, dass ihr Handeln weitgehend folgenlos ist. Außerdem ist die Publizistik sehr viel länger auf Bush-Linie gewesen als die Bevölkerung. Bei der Schröder-Wahl war es ähnlich. Auch hier hat die Bevölkerung anders gedacht, als alle Meinungsumfragen und Zeitungen unterstellt haben. Die Leser eignen sich zunehmend ihre Meinung durch Konträrfaszination an.

Was heißt das?

Sie kaufen fasziniert eine Zeitung, die einen anderen Standpunkt vertritt, und bestrafen die Zeitung, indem sie ihren latenten Wahlempfehlungen nicht folgen.

Weil die Medien konservativer sind als die Bevölkerung, fühlt sich diese so ohnmächtig?

Ja. Die Folgenlosigkeit des Wissens um Dinge wie Guantánamo stellt vor allem eine Frage an die Medien. Zumal die deutschen.

Es gibt eine spezifisch deutsche Blockade?

Blockade ist zu viel gesagt. Aber im Vergleich zu dem, was der Guardian, BBC, Chanel 4 über Guantánamo berichtet haben, blieb das, was ARD, ZDF, der Spiegel und der Stern gemacht haben, deutlich unter den publizistischen Möglichkeiten. Schlüsselfragen, wie etwa die deutsche Beteiligung an Verhören müssten deutsche Journalisten doch brennend interessieren. Radikalität ist die einzige humane und diskutable Haltung gegenüber diesen Lagern. Diese Radikalität sehe ich fast nirgends. Aber - wollen wir nicht mit etwas Positivem aufhören?

Na?

Ganz positiv ist: Es gibt jetzt Gott sei Dank ein Lied von Howard Carpendale für Obama. Und das heißt: "Yes, we can". Es beginnt mit den Worten (singt): Am Anfang war isch kritisch. Ne, falsch: "Am Anfang war isch skeptisch, doch am Ende war mir klar: Wenn einer etwas ändert, dann ist es sicher er." Das wahre Crescendo aber kommt jetzt: "Und ich hätt auch mit geschrien, wenn ich dabei gewesen wär. Yes, we can."

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.