OECD-Bericht kritisiert: Hausfrau hemmt Aufschwung

Das deutsche Steuer- und Sozialrecht bestraft Vollzeitarbeit, das Bildungssystem zementiert soziale Ungleichheit, kritisiert die OECD in ihrem Bericht.

Weniger als 30 Stunden arbeiten weibliche Erwerbstätige hierzulande im Schnitt. Viel zu wenig, befand OECD-Generalsekretär Ángel Gurría - und fordert den Ausbau der Kinderbetreuung. Bild: ap

BERLIN taz In Deutschland gilt sie noch als zivilisatorischer Fortschritt, die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) hält sie dagegen für ein Relikt des Patriarchats: die Teilzeitarbeit von Frauen. Weniger als 30 Stunden arbeiten weibliche Erwerbstätige hierzulande im Schnitt. Viel zu wenig, befand OECD-Generalsekretär Ángel Gurría am Mittwoch bei der Vorstellung des neuen Deutschland-Berichts seiner Organisation. Hier schlummere eine "ungehobene Talentreserve", sagte der Mexikaner. Auf sie zu verzichten bedeute, "sich als Gesellschaft selbst zu verleugnen".

Konkret verlangen die Experten aus Paris die Abschaffung des Ehegattensplittings, die kostenlose Mitversicherung von Ehepartnern bei der Krankenkasse und den Ausbau der Kinderbetreuung. Nur so könne die Aufnahme einer Vollzeitarbeit für verheiratete Frauen und für Frauen mit Kindern attraktiv gemacht werden. Gegenwärtig müssten sie mehr als 50 Prozent der zusätzlichen Einkünfte in Form von Steuern und Abgaben wieder abführen. Als Alternative schlägt die OECD vor, Ehegatten künftig individuell zu besteuern.

Deutliche Worte findet die Organisation auch zum Bildungssystem. So kritisiert sie die Aufteilung der Schüler auf Hauptschule, Realschule und Gymnasium im Alter von zehn Jahren. Dies zementiere die sozialen Ungleichheiten. Ein Lob erhalten Brandenburg und Berlin, wo die Kinder bis zur sechsten Klasse die Grundschule besuchen. "Andere Bundesländer", heißt es in dem Bericht, "sollten ebenfalls in Erwägung ziehen, das Alter der ersten Selektion anzuheben."

Die deutsche Hauptschule hält die OECD für ein Auslaufmodell. Sie schlägt ein zweigliedriges Schulsystem mit nur einer weiteren Schulart neben dem Gymnasium vor, wie es in Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein eingeführt wird und auch in Hamburg nach den schwarz-grünen Koalitionsverhandlungen umgesetzt werden könnte.

In vielen unionsregierten Bundesländern stoßen die Vorschläge jedoch auf taube Ohren. "Wir sehen keinen Handlungsbedarf, an einem gut funktionierenden Schulwesen etwas zu ändern", sagte ein Sprecher des bayerischen Kultusministeriums am Mittwoch der taz. Der baden-württembergische Kultusminister Helmut Rau (CDU) reagierte gereizt. In ihrem Bericht ignoriere die OECD "das hohe Maß an Durchlässigkeit des Schulsystems in Deutschland".

Ihre Kritik begründet die OECD unter anderem mit den Ergebnissen ihrer jüngsten Pisa-Studie. Im internationalen Vergleich lagen die 15-jährigen Schüler in Deutschland in den Naturwissenschaften zwar über dem Durchschnitt und in der Lesekompetenz und in Mathematik im Mittelfeld. Doch in kaum einem anderen Land entscheiden soziale Herkunft und Migrationshintergrund so stark über Erfolg oder Misserfolg wie in Deutschland. Die OECD attestiert Deutschland deshalb "eine geringe Chancengleichheit im Bildungswesen".

Auch an der deutschen Lehrerausbildung, deren Reform seit Jahren stockt, lässt die OECD kaum ein gutes Haar. Zwar werde hier großer Wert auf Fachwissen gelegt, bei der Didaktik hapere es aber. So seien die deutschen LehrerInnen nicht genügend darauf vorbereitet, den Unterricht auf den einzelnen Schüler abzustimmen und selbstständiges Lernen zu fördern.

Lobend äußerte sich die OECD dagegen zu den Fortschritten bei der Beschäftigung Älterer. Anders als bei den Frauen seien hier deutliche Fortschritt zu verzeichnen. Nach den Zahlen aus Paris ist die Beschäftigungsquote von Personen im Alter von mehr als 55 Jahren seit 2003 um volle 10 Prozentpunkte auf mehr als 50 Prozent gestiegen. Jeder zweite in dieser Altersgruppe geht heute wieder einer Arbeit nach. Vor dem Hintergrund der alternden Gesellschaft sollten allerdings auch die verbliebenen Frühverrentungsoptionen abgeschafft werden.

In der Debatte über den Mindestlohn stützte Generalsekretär Gurría die Position der SPD. "Wir machen uns nicht zu Anwälten eines Mindestlohns", sagte Gurría zwar. Aber: "Wenn die Deutschen ihn einführen wollen, dann sollten sie es auf einem einheitlichen Niveau tun." Regelungen für einzelne Branchen machten das Leben "enorm kompliziert".

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.