Woran die Lohnuntergrenze scheitert: Mindestlohn und Wirklichkeit

Der SPD-Wahlkampfkracher 2009 erweist sich als Blindgänger. Denn der Trick, Mindestlohn über das Entsendegesetz einzuführen, scheitert weil die Branchen kein Interesse anmelden.

Mindestlohn per Entsendegesetz für Kellner? Funktioniert nicht in der Gastrobranche. Bild: dpa

Machen wir ein völlig utopisches Gedankenspiel: SPD und CDU einigen sich schnell auf einen Mindestlohn. 7,50 Euro für alle. Ein ostdeutscher Wachschützer mit einer 40-Stunden-Woche würde plötzlich ein Drittel mehr verdienen als bisher - nämlich 1.220 Euro brutto. Wenn man Steuern, Kranken-, Renten- und Arbeitslosenversicherung abzieht, bleiben ihm 920 Euro zum Leben. Ist das zu viel?

Die einfache Frage, ob Arbeit Existenz sichern muss oder nicht, spielt keine Rolle mehr: Es fliegen die Fetzen in der großen Koalition, der Mindestlohn mal wieder. Immer deutlicher zeigt sich: Das Lieblingsprojekt der SPD floppt. Der Mindestlohn wird in dem Dauerstreit mit der Union zerrieben wie ein Stück Parmesan, es bleiben allenfalls ein paar Krümel. Eine erste Niederlage wird Arbeitsminister Olaf Scholz (SPD) in gut zwei Wochen offiziell eingestehen müssen. Dann endet die Frist für Branchen, in der sie die Aufnahme ins Entsendegesetz beantragen können.

Das Entsendegesetz regelt, zu welchen Bedingungen ausländische Firmen auf dem deutschen Arbeitsmarkt tätig werden dürfen. Über dieses Gesetz hat die Koalition einen Mindestlohn für die Postbranche eingeführt, so wie man es auf der Klausur in Meseberg 2007 vereinbart hatte. Selbst SPDler geben zu, dass es eine Notlösung war, weil mit der CDU gesetzliche Mindestlöhne nicht zu machen sind. "Schlag auf Schlag" würden weitere Branchen die Aufnahme beantragen, hatte Scholz Mitte Februar optimistisch vorhergesagt. Ein Fehlschluss. Knapp zwei Wochen vor Ende der Meldefrist wollen nur zwei Branchen den Postlern folgen: das Zeitarbeits- und das Wachschutzgewerbe.

Die taz hat nun bei weiteren Branchen nachgefragt, in denen Niedriglöhne die Regel sind. Das Ergebnis: Weder im Hotel- und Gastgewerbe noch in der fleischverarbeitenden Industrie können Mindestlöhne per Entsendegesetz eingeführt werden, auch für Friseurinnen und die Verkäuferinnen des Einzelhandels kommt er nicht in Betracht. Arbeitgeber der Entsorgungsbranche und die Gewerkschaft Ver.di verhandeln zwar über einen Tarifvertrag, die Aufnahme ins Entsendegesetz wollen die Firmenchefs aber mit allen Mitteln verhindern. Immer deutlicher zeigt sich jetzt: Das Entsendegesetz ist das falsche Instrument, um Mindestlöhne zu installieren. Denn es geht an der ökonomischen Realität vorbei.

Eine Branche, die ins Entsendegesetz will, muss eine Tarifbindung von mindestens 50 Prozent vorweisen. Dies ist in Niedriglohnbranchen oft nicht der Fall. In der Fleischwirtschaft mit ihren 108.000 Beschäftigten existiert etwa keinerlei Flächentarifvertrag. "Da gibt es nichts, was Herr Scholz für allgemeinverbindlich erklären könnte", sagt Karin Vladimirov, Sprecherin der Gewerkschaft Nahrung, Genuss und Gaststätten (NGG).

Stattdessen ist die Tariflandschaft in viele Haustarifverträge zersplittert, die Gewerkschaft kann wegen des niedrigen Organisationsgrades kaum gegensteuern. In manchen Großschlachtereien sind nur noch 10 Prozent der Mitarbeiter fest angestellt. Neben ihnen schlachten und zersägen Arbeiter aus Osteuropa die Schweine - sie werden von selbständigen Subunternehmern beschäftigt, laut NGG verdienen sie weniger als fünf Euro pro Stunde. Der Umsatz der Firmen in der Fleischwirtschaft ist allein im Jahr 2006 um neun Prozent auf rund 30,5 Milliarden Euro gestiegen. Obwohl also Unternehmen durchaus höhere Löhne zahlen könnten, ist das Entsendegesetz, das auf Tarifbindung und starke Verhandlungspartner setzt, so nutzlos wie ein stumpfes Fleischermesser.

Ebenso sieht es in anderen Branchen aus. Beispiel Hotel- und Gaststättengewerbe. In 9 der 18 Tarifgebiete gebe es keine aktuellen Tarifverträge, sagt Vladimirov, "weil die Arbeitgeber nicht verhandeln wollen". Ein weiteres Problem: Auf 780.000 Beschäftigte kommen 200.000 Betriebe, die Branche wird von kleinen Eckkneipen dominiert. Ein Wirt, der nur zwei Thekenkräfte beschäftigt, hat oft wenig Interesse, Tarif zu zahlen - und seine Mitarbeiter machen keinen Druck über die Gewerkschaft, weil sie den Rausschmiss fürchten. In Kleinbetrieben bekommen die Gewerkschaften oft keinen Fuß auf die Erde. Auch bei den Friseurinnen, die im Osten gerade mal 4,65 Euro nach Tarif verdienen, verhindert die geringe Tarifbindung einen Mindestlohn.

Dabei wollen manchmal sogar die Firmenchefs eine Lohnuntergrenze. Ihnen geht es aber weniger um höhere Löhne, sondern eher um den Schutz vor Konkurrenz. Im Wachschutzgewerbe fürchtet Harald Olschok, Geschäftsführer vom Bundesverband Deutscher Wach- und Sicherheitsunternehmen (BDWS), dass Billigfirmen aus Polen den deutschen Markt aufrollen - wenn es 2009 oder 2011 zur vollen Arbeitnehmerfreizügigkeit kommt. Der Verband verhandelt mit einer kleinen christlichen Gewerkschaft über einen Mindestlohn per Entsendegesetz. Eine Vereinbarung mit Ver.di war zuvor geplatzt - 7,50 Euro waren den Firmenchefs zu viel. Mit den Christlichen wird es billiger: Sie haben im Osten Tariflöhne weit unter 5 Euro ausgehandelt.

Auch solche Volten zeigen: Die Kluft zwischen dem sozialdemokratischen Wunsch und der Wirklichkeit ist riesig. "Das Konstrukt wurde schon sehr hochgejubelt", heißt es inzwischen im Arbeitsministerium. Noch Anfang des Monats hatte sich SPD-Fraktionschef Peter Struck, Seit an Seit mit DGB-Chef Michael Sommer, zu der Schätzung verstiegen, er rechne mit "zehn oder mehr" Branchen, die ins Entsendegesetz wollten. Eine bemerkenswerte Realitätsverweigerung, die sich aus der Bedeutung des Projekts für die sozialdemokratische Seele erklärt.

Der Mindestlohn war das Wundpflaster für die SPD. Von Franz Müntefering Ende 2006 als Herzenssache entdeckt, schien er das ideale Thema, um die sozialdemokratische Seele nach den Zumutungen der Schröderschen Agenda 2010 zu heilen: Er taugte, um den Wählern soziale Wärme zu demonstrieren, der Linken Terrain abzukaufen und enttäuschte Gewerkschaften wieder an die Sozialdemokratie zu binden. 1,5 Milliarden Euro würde der Staat durch einen Mindestlohn von 7,50 Euro sparen, hat Scholz ausgerechnet - weil er Dumpinglöhne nicht mehr durch öffentliche Zuschüsse aufstocken müsste. Von Branche zu Branche wollte die SPD die Union treiben, DGB-Boss Sommer hat das sehr treffend "Häuserkampf" genannt.

Allein, die Offensive gerät ins Stocken - und die SPD hat durch das Urteil des Berliner Verwaltungsgerichts Boden verloren. Es hat den Post-Mindestlohn vergangene Woche für unzulässig erklärt. Mehrere private Briefzusteller hatten gegen ihn geklagt, weil sie sich in ihrer Existenz bedroht fühlten. Der Richter begründete sein Urteil so: Die Regierung dürfe nicht mit einer Verordnung einen Tarifvertrag verdrängen.

Während nun wirtschaftsnahe Institute und Lobbyisten das Ende des Post-Mindestlohnes fordern (siehe Kasten), wird die Koalition die Post-Vereinbarung nicht kippen. Das machten die Abgeordnete von CDU und SPD in der Aktuellen Stunde im Bundestag am Mittwoch deutlich, CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla bestätigte nach einer Präsidiumssitzung sogar die Sicht des SPD-Arbeitsministers, das Urteil weiche von der Rechtssprechung des Bundesverwaltungs- und arbeitsgerichts ab.

Aber klar ist auch: "Ab jetzt steht uns wieder ein heftiger Kampf bevor", sagt Klaus Barthel, Post-Experte der SPD-Fraktion. Denn die Union wird alle weiteren Branchen am Urteil messen. "Wir können nicht sehenden Auges Regelungen beschließen, die rechtlich nicht haltbar sind", sagt der Arbeitsmarktexperte der CDU-Bundestagsfraktion, Ralf Brauksiepe. In der Zeitarbeit gebe es zum Beispiel konkurrierende Tarifverträge, eine fast 100-prozentige Tarifbindung und "kaum Spielraum" für den gesetzlich fixierten Mindestlohn.

Zumal auch der Masterplan von Arbeitsminister Scholz stockt. Er besteht aus zwei Gesetzen. Neben dem Entsendegesetz hat er seinen Kabinettskollegen die Neufassung eines wahren Wortungetüms vorgelegt: Das so genannte Mindestarbeitsbedingungengesetz aus dem Jahr 1952 soll so formuliert werden, dass es Mindestlöhne in Branchen mit einer Tarifbindung von unter 50 Prozent ermöglicht. Es würde also auch den schlecht bezahlten Friseurinnen und Fleischarbeitern Mindestlöhne garantierten. Von "kommunizierenden Röhren" spricht der studierte Arbeitsrechtler Scholz gerne, wenn er die Gesetze erklärt. "Da bleiben keine weißen Flecken." Mithilfe zweier Notlösungen wäre das Kunstück gelungen, in allen Niedriglohnbranchen existenzsichernde Jobs zu garantieren.

Doch der Konflikt zwischen eifriger SPD und unwilliger CDU spiegelt sich auch im Kabinett wider. Wirtschaftsminister Michael Glos ließ dem Kollegen stante pede ein elfseitiges Schreiben übermitteln, indem er über 30 Streitpunkte auflistet. Glos interpretiert die Vereinbarungen des Koalitionsausschusses vom Juni 2007 völlig anders und will die Hürden für Mindestlöhne deutlich höher ansetzen. Ein klassisches Patt. SPD-Mann Struck forderte am Donnerstag ein Machtwort von Merkel: "Ich verlange von Frau Merkel, dass sie durchsetzt, dass der Widerstand von Wirtschaftsminister Glos gegen Mindestlöhne aufgegeben wird."

Solche Appelle belegen nur das Dilemma der SPD. Die erste Idee für Mindestlöhne wird von der Realität widerlegt, die zweite steckt fest. Und die Opposition feixt. "Die Koalition hat das Projekt Mindestlohn an den Abgrund bugsiert", sagt die arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Grünen, Brigitte Pothmer. Ihre Fraktion will jetzt Anfang Mai die ausgearbeiteten Gesetzentwürfe des SPD-Arbeitsministers ins Parlament einbringen. Ein beliebter Trick, um die an die Koalitionsdisziplin gebundenen SPDler zu demütigen, die gegen ihre Anträge stimmen müssen. Denn Rot-Grün-Rot im Bund für Mindestlöhne, das wäre noch so eine Utopie.

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