Streit in Gedenkstätte Dachau: Rufmord im KZ

Der Historiker Michael Wolffsohn und Barbara Distel, die frühere Leiterin der KZ-Gedenkstätte Dachau, liefern sich einen bizarren Streit um Gedenkkultur.

Neue Gedenkkultur? Das Besucherzentrum der KZ-Gedenkstätte Dachau mit Infocenter, Gastronomie und Buchhandlung. Bild: dpa

Der Regen hat aufgehört, der Kies ist noch nass und schwer. Max Mannheimer muss sich einhaken. Er ist 89 Jahre alt, hat Auschwitz und Dachau überlebt. Er ist einer der Letzten, die noch davon erzählen können. Arm in Arm mit der Gedenkstättenleiterin schreitet er zum Tor. Vor ihm stapfen Fotografen, hinter ihm stapft der Bürgermeister, neben ihm der Ministerpräsident. Gleich werden sie zusammen lachend ein blau-weißes Band durchschneiden. Dann gibt es Sekt und Häppchen.

An diesem Nachmittag scheint die Harmonie in Dachau unerschütterlich. Die KZ-Gedenkstätte Dachau eröffnet ein modernes Besucherzentrum mit einem Café und einer Buchhandlung darin. Das Bayerische Fernsehen überträgt live.

Konzentrationslager: Hier waren von 1933 bis zum 29. April 1945 über 200.000 Menschen inhaftiert. 43.000 von ihnen starben.

Gedenkstätte: Nach dem Krieg wurde das Gelände als Flüchtlingslager für Heimatvertriebene genutzt, bis das Dachauer Lager 1965 auf Initiative von überlebenden Häftlingen zur permanenten Gedenkstätte wurde. Heute besuchen jedes Jahr 800.000 Menschen das ehemalige Konzentrationslager, davon mehr als 400.000 aus dem Ausland.

Stadt Dachau: Anfang 2009 hatte die Stadt Dachau genau 42.221 Einwohner - Tendenz steigend. Und das, obwohl Dachau nach der Statistik die Stadt mit den dritthöchsten Mieten in ganz Deutschland ist.

Doch die Kameras können nicht zeigen, was für ein fragiles Gebilde eine Gedenkstätte tatsächlich ist. Opfer aus aller Herren Länder, Politiker, Anwohner - sie alle projizieren ihre Befindlichkeiten auf diesen Ort. Jedes falsche Wort, jede falsche Geste kann in diesem Umfeld ein Erdbeben auslösen. Eine einzelne E-Mail hat da manchmal eine enorm zerstörerische Kraft.

Im Dezember schrieb der Münchner Geschichtsprofessor Michael Wolffsohn eine solche Mail, in der er sich nach Gerüchten erkundigte. Die seien ihm über die ehemalige Leiterin der Dachauer Gedenkstätte zugetragen worden. Sie habe Gelder veruntreut und ihre Dienstfestplatte gelöscht, habe er gehört. Fünf Monate später ist aus der Mail ein Rechtsstreit geworden. Es gehe eigentlich um gar nichts, sagen die einen. "Es geht um den Ruf der Gedenkstätte", schreibt die Dachauer Lokalausgabe der Süddeutschen Zeitung.

Barbara Distel sitzt in der Woche nach den großen harmonischen Feierlichkeiten von Dachau vor dem Münchner Literaturhaus in der Sonne und sagt: "Ich fühle mich massiv beschädigt." 33 Jahre lang hat sie die Gedenkstätte in Dachau geleitet. Im vergangenen Sommer wurde sie 65 und ging in den Ruhestand. Die Vorwürfe seien lächerlich, sagt sie. Es geht um mehr als gekränkte Eitelkeit. Es geht um den guten Ruf ihres Lebenswerkes. "Die Gedenkstätte ist mein Lebensthema."

Als Distel 1975 die Leitung der Gedenkstätte im ehemaligen Konzentrationslager Dachau übernahm, wollten die Menschen in der Stadt von ihrer Arbeit nichts wissen. Eine Zusammenarbeit mit dem Bürgermeister gab es nicht. Das Verhältnis zur Bevölkerung war "nicht existent", sagt Distel heute. Zu schwer taten sich die Dachauer mit ihrer eigenen Vergangenheit.

Adolf Hitler war erst wenige Wochen an der Macht, da entstand im März 1933 in der kleinen Marktgemeinde Dachau, nördlich von München, ein Konzentrationslager. Es wurde zum Modell für die Terrormaschinerie der Nazis. Die meisten Dachauer ignorierten, was hinter den Mauern passierte, so gut sie nur konnten. Dachau war eine Stadt, wie es sie viele gab in Deutschland. Doch anders als in Weimar oder in Oranienburg war das Lager hier nicht nach einem Vorort oder einem Ortsteil benannt, sondern nach der Stadt selbst. Das machte es den Dachauern besonders schwer.

Jahrzehntelang fuhren schwangere Dachauerinnen zur Entbindung in Münchner Krankenhäuser - nur um dem Kind den Geburtsort "Dachau" in der Geburtsurkunde zu ersparen. Der schlechte Ruf der Vergangenheit schien an jedem Dachauer zu kleben. So wählten die Menschen hier dreißig Jahre lang einen Bürgermeister, der alles tat, um die Vergangenheit zu ignorieren. Er hieß Lorenz Reitmeier. Der förderte das bäuerliche Heimatmuseum, das urige Volksfest und gab opulente Kunstbildbände mit Landschaftsmalerei heraus.

Damals habe sie eine starke Feindseligkeit in der Stadt gespürt, sagt Distel. Am Bahnhof gab es keine Wegweiser zur Gedenkstätte. Als man ein Jugendgästehaus für die jungen Besucher aus aller Welt errichten wollte, behauptete die CSU, es würde Rechtsradikale anziehen. Als Distel einen neuen Eingang und ein Besucherzentrum für die Gedenkstätte errichten wollte, stellte sich der Stadtrat lieber auf die Seite der Anwohner, die mittlerweile ihre Häuser bis an die Lagermauer gebaut hatten.

Inzwischen gibt es ein Jugendgästehaus, ein Besucherzentrum und einen Erinnerungsweg mit Schautafeln quer durch die Stadt. Der aktuelle Bürgermeister von der CSU unterstützt die Gedenkstätte. Jetzt, wo es kaum mehr direkt Betroffene gibt, ist das möglich. Doch Konflikte gibt es noch immer.

Michael Wolffsohn ist der Enkel eines ehemaligen Dachau-Häftlings. Mit der Gedenkstätte hat sich der streitbare Historiker von der Universität der Bundeswehr bislang vor allem intellektuell beschäftigt. "Hölle plus Disneyland. Das ist für mich die KZ-Gedenkstätte Dachau", schrieb er 2001 in der Welt. Das Erinnern dort verletze das jüdische Bildverbot und entwürdige die Opfer, so Wolffsohn.

Das sei nicht persönlich gemeint gewesen, nur als Beitrag zur intellektuellen Debatte, sagt Wolffsohn, als er in einem Café im Münchner Norden sitzt. Er lächelt, sein schmales Gesicht wirkt jünger als 61 Jahre. Wer das Argument nicht verstehe, sei ein "jüdischer Analphabet", meint Wolffsohn. Er habe eigentlich kein Problem mit Barbara Distel.

"Ihre Verdienste um die Verständigung mit und den Brückenbau zu unserer Gemeinde sind über alle Zweifel erhaben. Mehr noch: Sie sind großartig", schrieb Wolffsohn Ende Dezember in jener Mail über sie. Barbara Distel sollte im Januar einen Vortrag im jüdischen Kulturzentrum in München halten. Wolffsohn ist Kulturreferent der Israelitischen Kultusgemeinde. Er sei darauf angesprochen worden, dass es Gerüchte über Frau Distel gebe. In der Mail an die Leiterin des Kulturzentrums bat Wolffsohn, die Anschuldigungen zu widerlegen. Die Leiterin fand keine Hinweise auf eine Verfehlung Distels. "Damit war für mich die Sache erledigt", sagt Wolffsohn. Nur der Vorstand der Kultusgemeinde erfuhr davon.

Doch Barbara Distel fühlte sich angegriffen und verklagte Wolffsohn auf Unterlassung. Als das Münchner Landgericht vor wenigen Tagen sein Urteil verkündete, dauerte das nur wenige Sekunden. "Die Klage wird abgewiesen", sagte der Richter. Dann setzte er sich wieder. Wolffsohn habe die Anschuldigungen nur im kleinen Kreis geäußert, heißt es in der schriftlichen Begründung. Doch da füllte der Streit schon die Dachauer Lokalzeitungen.

"Ich kann das nicht auf mir sitzen lassen", sagt Distel. "Ich muss in Berufung gehen." Distel habe zugegeben, dass sie die Dienstfestplatte gelöscht hat, sagt Wolffsohn. Das sei ein ganz normaler Vorgang gewesen, sagt Distel. Den Computer habe sie nur als Schreibmaschine für Manuskripte benutzt. Alles, was die Gedenkstätte betrifft, sei eh in Papierform vorhanden. Michael Wolffsohn sagt, er verlange eine Entschuldigung.

In Dachau, in der Gedenkstätte, sitzt die neue Leiterin Gabriele Hammermann, 46, in einem schwarzen Kunstlederstuhl und kann Wolffsohns Aufregung nicht verstehen. Der Vorwurf der Veruntreuung sei ein Missverständnis, eine Nebentätigkeit Distels sei einmal versehentlich falsch verbucht worden. "Das Sinnvollste ist, wenn der Rechnungshof die Bücher überprüft." Da weiß sie noch nicht, dass Michael Wolffsohn wenig später einen neuen Brief schreiben wird. Er fordert nun auch von ihr eine Entschuldigung. Den Vorwurf, er habe die Gedenkstätte beschädigen wollen, nehme er nicht hin.

Der Adressat des Briefes fläzt unterdessen auf Gabriele Hammermanns Sofa. Er heißt Karl Freller, sitzt für die CSU im Landtag und ist Direktor der Stiftung Bayerischer Gedenkstätten. Er hat große Pläne. Man müsse die Gedenkstätten international vernetzen. Jetzt, wo immer weniger Zeitzeugen am Leben seien, würden die Orte wichtig.

Gabriele Hammermann sagt: "Die Gedenkstätten sind nur so lebendig wie das Umfeld." Wann immer es geht, versucht sie Kompromisse zu finden, mit der Stadt zum Beispiel, die neben dem Gedenken immer auch die Förderung des Tourismus als Ziel hat, oder mit der Staatsregierung. Hammermann meint: "Ich habe das Glück, dass ich in einer Phase hierhergekommen bin, wo die Emotionen nicht mehr so hochkochen." Aber es schwingt auch immer die Gefahr mit, dass das Gedenken bei all dem Konsens langsam starr wird und zum Ritual verkommt.

"Ohne Diskussionen werden Gedenkstätten zu sterilen Orten", sagt Barbara Distel. "Wenn wir uns alle ständig einig sind, wie gut wir gedenken, dann haben wir nichts davon." So ist der lebendigste Moment des Festes in Dachau gekommen, als Max Mannheimer, der Überlebende, die Bühne betritt. "Unsere Reihen lichten sich", sagt er. "Die Welt hat zu wenig aus unserer Geschichte gelernt." Es klingt, als würde er gerade sein eigenes Testament lesen.

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