Dresdner SPD-Parteitag: Siggi Stardust

In der SPD herrscht das leicht depressive "Ja, aber". Dem neuen Chef Sigmar Gabriel gelang das Kunststück, es mit suggestiver Kraft zu präsentieren. Dafür bekam er 94,2 Prozent.

Bei Gabriel sitzt jede Geste. Er beherrscht die Bühne. Bild: dpa

Sigmar Gabriel zögert. Er blinzelt ins Scheinwerferlicht, es ist Freitagabend und vielleicht der wichtigste Tag seiner Karriere. Gerade hat das Präsidium des Parteitags verkündet, dass er mit 94,2 Prozent zum neuen Vorsitzenden der SPD gewählt wurde. Niemand hatte so ein Ergebnis erwartet, nicht nach dem Absturz bei der Bundestagswahl, nicht nach der kühlen, geschäftsmäßigen Art, wie flugs die neue Führung ausgekungelt worden war.

Doch Gabriel hat es geschafft. 525 Delegierte im Messesaal in Dresden applaudieren. Gabriel bleibt noch ein paar Sekunden sitzen, ergriffen, versunken, und ein wenig theatralisch. Dann steht er auf, schüttelt Hände, geht zum Rednerpult, mit langsamen Schritten, die die Bedeutung dieses Augenblicks unterstreichen. Bei Gabriel sitzt jede Geste. Er beherrscht die Bühne.

Gabriel ist das Gesicht der SPD in der Opposition. Er hat eine schwungvolle Rede gehalten, vielleicht die effektivste Parteitagsrede seit Oskar Lafontaine 1995 Rudolf Scharping verdrängte. Das ist erstaunlich, denn im Kern hat Gabriel nur die derzeitige Parteilinie bekräftigt. Und die lautet: Die SPD kann "stolz" auf elf Regierungsjahre sein. Aber, so steht es in dem in Dresden verabschiedeten Leitantrag, sie hat auch manches "falsch gemacht". Daher müsse man nun nachdenken - über Hartz IV, über die Rente mit 67, über die Bundeswehr in Afghanistan.

In der SPD dominiert derzeit dieser Ton unverbindlicher Zerknirschung, ein "Ja, aber". Auch hartnäckige Gegner der Agenda-Politik wie Ottmar Schreiner wollen Hartz IV und die Rente mit 67 nicht kippen. Jedenfalls nicht jetzt, weil das bloß opportunistisch wirken würde. Nur in einem Punkt schafft die Parteilinke Fakten. Sie setzt gegen den - nicht einmal halbherzigen - Widerstand der neuen Führung die Forderung durch, die Vermögensteuer wieder einzuführen.

Das Kunststück, das Gabriel zuvor gelang, war das blasse, leicht depressive "Ja, aber" mit suggestiver Kraft zu präsentieren. Mal analytisch, dann hemdsärmelig, mal mit spontanen Pointen, dann aggressiv, so redete der neue SPD-Vorsitzende knappe zwei Stunden. Die SPD müsse wieder da sein "wo es laut ist, wo es brodelt, wo es manchmal riecht, gelegentlich auch stinkt. Nur wo es anstrengend ist, da ist das Leben." Solche Töne hat man in die SPD, in der ein blutarmer Politsprech der Normalfall ist, lange nicht gehört. Auch deshalb bekam Gabriel so viele Stimmen.

Und wegen einer Parteitagsdramaturgie, die den Zorn vor allem der SPD-Linken über Agenda und Basta-Politik geschickt kanalisierte. Erst hielt Franz Müntefering eine betont zurückhaltende Abschiedsrede, dann debattierte die Basis mehr als fünf Stunden lang. Viel ratlose Wut kam zum Vorschein, man schimpfte die "Anpassung an den neoliberalen Mainstream" und beklagte den "autoritären Führungsstil in der Partei". Es durfte endlich gesagt werden, was lange verschwiegen war. Doch Steinbrück, Steinmeier, Müntefering & Co traten nicht ans Mikrofon und widersprachen. Es war eine Streitsimulation. Danach kam Gabriel, gab sich demütig, redete und siegte.

Die SPD in Dresden war entschlossen zur Selbstversöhnung. Auch die neuen Vizechefs, von Klaus Wowereit bis Olaf Scholz, erzielten blendende Ergebnisse von über 80 Prozent. Trotz dieses Willens zur Harmonie ist sichtbar, wer in der neuen Machtarchitektur im Zentrum steht und wer eher abseits. Andrea Nahles bekam als Generalsekretärin weniger als 70 Prozent. Offenbar war dies keine gezielte Attacke eines Flügels, sondern ein Unfall. Rechte nehmen ihr noch immer ihre Rolle bei Münteferings Rücktritt 2005 krumm, Linke ihre Taktiererei als Vizechefin. Gabriels Umfeld nahm Nahles danach fast beflissen in Schutz. Doch klar ist: Der Idee, dass Nahles und Gabriel als eine Art gleichberechtigte Doppelspitze die SPD führen, ist vorerst passé.

Der zweite Verlierer ist Frank-Walter Steinmeier. Seine Rede wurde beiläufig zur Kenntnis genommen. Mehr nicht. Debattieren wollte darüber kaum einer. Noch nicht mal Widerspruch - das war fast die Höchststrafe. Steinmeier ist als Fraktionschef ein Mann des Übergangs. Dass er ein tapferer Kanzlerkandidat war, wird bald vergessen sein. Gabriel dementierte eilig, dass er Steinmeier im Bundestag die Show stehlen wird, "Die SPD hat nur eine Chance: Zusammenhalt, Zusammenhalt, Zusammenhalt." So ist es. Aber klar ist auch: Definieren, was die SPD braucht, wird keine Doppelspitze, kein Steinmeier, sondern Gabriel. Die bange Frage, die sich manche Genossen stellen, lautet, ob Gabriel den Konsens auch suchen wird, wenn die Scheinwerfer aus sind.

Die SPD will "Gegenmacht" zu Schwarz-Gelb sein, wie Steinmeier vollmundig verkündete. Und sie muss sich zur Gesellschaft öffnen, das war in Dresden oft zu hören. Sie hat bei diesem Parteitag ihr Spitzenpersonal neu gewählt, 50 Posten - und keinen einzigen Migranten. Keinen Cem Özdemir, keine Emine Demirbüken. SPD-Politiker beklagen stets routiniert mangelnde Aufstiegschancen der Migranten in der Gesellschaft. Deren Aufstiegschancen in der SPD sind gleich null. "Kommen Sie zu uns, zur SPD", rief Gabriel den Migranten forsch zu. Ernst gemeint ist das nicht.

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