Opferschutz im Strafprozess: "Wir wollen kein altes Video"

Kann die Aussage mutmaßlicher Opfer durch ältere Videoaufnahmen ersetzt werden? Die Regierung ist dafür - Strafverteidigerin Anke Müller-Jacobsen protestiert.

In Strafprozessen könnte die Nutzung von Videos bei Opferaussagen künftig ausgeweitet werden. Das finden nicht alle gut. Bild: dpa

taz: Frau Müller-Jacobsen, die Bundesregierung will Opfer von sexuellem Missbrauch vor Gericht schonender behandeln. Strafverteidiger sehen das kritisch. Warum?

Anke Müller-Jacobsen: Wir müssen aufpassen, dass der Strafprozess nicht seine Balance verliert und unfair wird. Die Aussage des mutmaßlichen Opfers ist bei Prozessen wegen sexuellen Missbrauchs oft das einzige Beweismittel. Wenn Aussage gegen Aussage steht, muss das mutmaßliche Opfer in der Hauptverhandlung aussagen und befragt werden können. Es ist hoch problematisch, wenn eine solche Aussage durch die Videoaufnahme von einer Vernehmung aus den Ermittlungen ersetzt wird.

Schon seit 1998 ist die Videoaussage zulässig, wenn über Straftaten verhandelt wird, bei denen Kinder und Jugendliche Opfer wurden. Was soll sich überhaupt ändern?

ANKE MÜLLER-JACOBSAN, 52, ist Strafverteidigerin und Vizepräsidentin der Berliner Rechtsanwaltskammer. Sie hat die Stellungnahme der Bundesrechtsanwaltskammer mitformuliert.

Bisher sollte nur Kindern und Jugendlichen der Auftritt vor Gericht erspart werden. Jetzt will die Bundesregierung dies auf Fälle ausweiten, bei denen das mutmaßliche Opfer zwar zur Tatzeit minderjährig war, aber zum Zeitpunkt des Prozesses volljährig ist. Das lehnen wir ab. Wenn jetzt sogar bei volljährigen Zeugen eine Aussage durch ein altes Video ersetzt werden kann, müssen bald gar keine mutmaßlichen Opfer mehr vor Gericht erscheinen.

Warum soll das mutmaßliche Opfer mehrfach aussagen?

Meist gibt es bis zum Prozessbeginn und in der Hauptverhandlung neue Erkenntnisse, zu denen das mutmaßliche Opfer noch nicht befragt wurde.

Würde es genügen, die Aussage im Gerichtsaal auf neue Aspekte zu beschränken?

Nein. Das Gericht und die anderen Prozessbeteiligten brauchen eine vollständige Aussage, um sich ein umfassendes Bild machen zu können. Das kann keine Videoaufzeichnung ersetzen.

Ist es Ihnen gar nicht wichtig, die Mehrfachvernehmung von Opfern zu vermeiden?

So schlimm es für die Betroffenen ist, vor Gericht noch einmal mit dem Erlebten konfrontiert zu werden: Das ist im Rechtsstaat unverzichtbar. Ob jemand wirklich Opfer wurde, muss das Gericht - wenn der Täter nicht geständig ist - ja erst herausfinden. Denken Sie nur an die Fälle Kachelmann und Strauss-Kahn, die Wahrheitsfindung ist oft schwierig. Da darf der Opferschutz keinen Vorrang haben.

Wie häufig sind Videoaussagen bisher?

Die Richter versuchen in Fällen von Kindesmissbrauch - bei entsprechender Beweislage - eher den Angeklagten zum Geständnis zu bewegen, um den Betroffenen eine Aussage vor Gericht zu ersparen. Andernfalls wollen die Gerichte aber doch lieber die Belastungszeugen selbst und kein altes Video sehen. Eher greifen sie zu der Möglichkeit, den Angeklagten während der Vernehmung des mutmaßlichen Opfers von der Hauptverhandlung auszuschließen. Allerdings sieht die Bundesregierung ihren Gesetzentwurf als ein "Signal" an die Justiz, künftig häufiger auf die Befragung mutmaßlicher Opfer im Prozess zu verzichten. Deshalb protestieren wir.

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