Politikerin Járóka über die Lage der Roma: "Der Staat muss sich einmischen"

Wachsende Ausgrenzung und Armut, dazu patriarchale Traditionen: Die schwierige Lage der Roma in Osteuropa geht die ganze EU an, findet die ungarische Roma-Politikerin Lívia Járóka.

"Ein Problem ist die Ausbeutung von Kindern, die zum Betteln gezwungen werden": Lívia Járóka. Bild: europaparlament

taz: Frau Járóka, die Europäische Union hat sich schon oft mit der Lage der Roma in Europa beschäftigt. Trotzdem bleibt die Situation dieser größten ethnischen Minderheit im vereinigten Europa prekär, mancherorts kommt es, wie jüngst in Ungarn, immer wieder zu brutalen Übergriffen auf Roma. Hat alles also nichts gebracht?

Lívia Járóka: Bevor die neuen Mitgliedsländer der EU beitraten, konnte die Kommission über die Länderberichte einen gewissen Druck auf deren Regierungen ausüben, in dieser Frage aktiv zu werden. Aber kaum waren die Osteuropäer in der EU, dachten viele, sie müssten sich jetzt nicht mehr anstrengen. Die EU-Kommission sieht jetzt aber ein, dass man nicht alles den Mitgliedstaaten überlassen kann.

In Brüssel gab es im vergangenen Jahr einen "Roma-Gipfel", und das EU-Parlament hat eine Resolution zur Lage der Roma in Europa beschlossen. Was wird da gefordert?

Das EU-Parlament will Europas sozialen Brennpunkte in einer Landkarte deutlich machen. Dann könnte man nämlich schnell erkennen, dass es meist gar nicht um spezielle Roma-Probleme geht, sondern um soziale Probleme in den jeweiligen Ländern. Was Lebensbedingungen, Jobs, Unterkunft, Gesundheitsversorgung und Erziehung angeht, bewegen sich die Roma in Europa auf einem ähnlichen Niveau wie die Menschen in der Subsahara. Doch damit unterscheiden sie sich nicht von anderen unterprivilegierten sozialen Gruppen. Deshalb will ich keinen gesonderten Kommissar in Brüssel, der sich um Roma-Angelegenheiten kümmert. Das ist eine Querschnittaufgabe, die bei den Kommissaren, die sich um Gesundheit, Erziehung, Arbeitsbedingungen und soziale Angelegenheiten kümmern, angesiedelt sein sollte.

Was kann die EU denn tun?

Wir müssen von Brüssel aus mehr regionale Projekte fördern und den Roma-Organisationen vor Ort den Rücken stärken. Und die Mitgliedstaaten sollten sich zu bestimmten Aktionsplänen verpflichten. Wenn sie die in einem bestimmten Zeitraum nicht erfüllen, dann muss die Kommission Sanktionen verhängen. Außerdem sollte die soziale Integration als Querschnittaufgabe gelten und in jeder Ausschreibung der EU berücksichtigt werden.

Bis jetzt gab es nur Projekte, die speziell für Roma vorbehalten waren. Manche sehen das als einen Grund dafür, warum so viel Geld wirkungslos versickert ist. Sie auch?

Es ist einer der Gründe. Was nützt zum Beispiel eine Bildungsprojekt für Roma-Kinder, wenn sie auf dem Weg zur Schule im Matsch versinken, weil es zu ihrer Siedlung keine Straße gibt? Es gibt europäische Fördertöpfe für Bildung, für medizinische Versorgung oder für Wohnungen - aber nicht für alles zusammen. Statt sich in Miniprojekten von kleinen Wohlfahrtsorganisationen zu verzetteln, müsste sich der Staat selber viel mehr einmischen.

Wie stellen Sie sich das vor?

Warum kann der Staat nicht selber Fabriken betreiben in Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit? Das verstehe ich einfach nicht! Ein zweiter Schwachpunkt ist, dass es viel zu wenig Studien über Roma gibt - und die Daten, die bereits existieren, nicht genug beachtet werden.

Auf dem Roma-Gipfel im September konnte man den Eindruck gewinnen, dass die Roma-Organisationen untereinander verfeindet sind und nicht an einem Strang ziehen.

Dafür gibt es viele Gründe. Zum einen stecken viele Organisationen in einer schwierigen finanziellen Situation. Zum anderen treiben die etablierten Parteien mit ihnen ein politisches Spiel. Vor den Wahlen werden sie hofiert und ausgenutzt, nach den Wahlen fallen sie in Bedeutungslosigkeit zurück. Es ist Zeit für einen Generationswechsel an der Spitze - statt politischer Funktionäre sollten junge, gut ausgebildete Spezialisten gefördert werden. Es muss einen Wertewandel in den Roma-Organisationen geben.

Sie fordern, dass sich auch in den Familien der Roma etwas ändern muss. Was denn?

In meinem Bericht über die Situation von Roma-Frauen, den ich vor zwei Jahren für das Europäische Parlament verfasst habe, habe ich geschrieben, dass bei den Roma die paternalistischen Strukturen noch immer zu stark sind - wie bei anderen sozialen Gruppen in Europa übrigens auch. Doch es ist viel mehr in Bewegung, als von außen wahrgenommen wird. Ein Problem ist die Ausbeutung von Kindern, die zum Betteln gezwungen werden. Das spreche ich ganz offen an.

Manche werfen Ihnen deshalb vor, dass Sie das eigene Nest beschmutzen. Was erwidern Sie diesen Kritikern?

Das tun höchstens Roma-Funktionäre, die damit eigene Interessen verfolgen. Die meisten Menschen dagegen sehen, dass meine Arbeit eine große Chance für sie bedeutet. Und da ist es, ganz im Gegenteil, sogar wichtig, dass die Kritik von jemandem kommt, der selbst zur Gruppe der Roma gehört. Viele sind wirklich verzweifelt, wissen Sie? Ich habe kürzlich eine Dokumentation bei der BBC gesehen, da fragte eine schwangere Frau den Reporter, ob er nicht ihr Baby nehmen wolle, damit es ihm besser geht. Können Sie sich das vorstellen? Eine Mutter, die ihr Kind weggeben will, weil es keine Zukunft hat?

Woran liegt das?

Die Familien leben von der Hand in den Mund - und dann fallen sie Wucherern in die Hände, die 600 Prozent Zinsen verlangen. Von diesen Geldverleihern, diesen kleinen Königen, werden viele komplett abhängig. Die Mitgliedsländer könnten dafür Mikrokredite aus dem Sozialfonds beantragen. Doch davon machen sie keinen Gebrauch.

Das EU-Parlament fordert auch getrennte Projekte für sesshafte und fahrende Roma. Macht diese Unterscheidung heute noch Sinn?

Natürlich. Aber das Nomadenproblem wird meist überschätzt. Nur fünf Prozent der Roma reisen heute noch herum. Ich frage mich immer, warum es für die Kinder der diplomatischen Nomaden so tolle Lösungen gibt - und für die fahrenden Roma nicht. Die Diplomatenkinder finden überall auf der Welt eine Internationale Schule, sie können in Schanghai dasselbe studieren wie in Brüssel.

Sie selbst gehören seit fünf Jahren zu den diplomatischen Nomaden. Auf Ihrer Homepage kann man sehen, wie Sie sich Montagmorgen von Mann und Kindern verabschieden, um zum Flughafen zu fahren. Ist die Arbeit als Abgeordnete die Mühe wert?

Ich habe vorher zehn Jahre in einer NGO gearbeitet. In dieser ganzen Zeit habe ich nicht so viel erreicht wie in einem Jahr als Europaabgeordnete. Natürlich ist es schmerzlich, wenn man zwei kleine Kinder hat. Meine Jüngste ist erst zwei. Aber die Großeltern helfen uns, und mein Mann lebt mit den Kindern zusammen. Um in der großen Politik genauso effizient zu arbeiten wie auf regionaler Ebene bei mir zu Hause, muss ich extrem gut organisiert sein. Das lerne ich gerade.

Werden Sie im Juni für eine zweite Amtszeit kandidieren?

Ich kann jetzt nicht aufhören. Von meiner konservativen Partei, der ungarischen Fidesz, habe ich vom ersten Tag meiner Arbeit an enorme Unterstützung bekommen. Sie hat mich in ihrer Liste für die Europawahl im Juni auf Platz sieben gesetzt. Ich bin jetzt eines der Gesichter der größten ungarischen Partei und tauche in ihrem Wahlvideo auf.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.