Verbot von Tattoos und Piercings: Russland will verlorene Jugend retten

Das Parlament will dem Sittenverfall der jungen Generation beikommen. Tätowierungen sollen verboten, Halloween und Valentinstag als Schulfeste gestrichen werden.

Müssen auf Lutscher in Skelett-Form fortan verzichten: Jugendliche in St. Petersburg

Russlands Duma bangt um die Jugend. Mit einem umfangreichen Projekt will der Gesetzgeber einem rasanten Sittenverfall Einhalt gebieten. Das Konzept zur "geistig-moralischen Erziehung der Kinder und zum Schutze ihrer Moral" umfasst mehrere Gesetzesprojekte und über ein Dutzend Änderungen der gültigen Gesetzgebung.

Neben dem Parlament beteiligt sich auch die Gesellschaftskammer, ein vom Kreml einberufenes Gremium der Zivilgesellschaft, an dem Rettungsversuch. Die Maßnahmen würden jedoch erst viel später Wirkung zeigen, meint der Abgeordnete und Mitinitiator Stanislaw Goworuchin. Der Filmemacher zeichnet ein alarmierendes Bild der Jugend: "Diese Generation ist verloren. Es gilt jene zu retten, die noch nicht geboren oder heute erst zwei Jahre alt sind."

Besonderen Anstoß nahmen die Abgeordneten an Modetrends wie Piercing und Tätowierungen. Sie sollen ab nächstem Jahr für Minderjährige strafbar werden, lediglich bei Mädchenohrringen wird eine Ausnahme gemacht. Auch subkulturelle Jugendbewegungen wie die ganz in Schwarz gekleideten Gothics und zu depressiv mürrische Anhänger der Hardcorepunkszene Emo halten die Sittenwächter für schädlich und subversiv. Den Gothics wird unterstellt, "bisexuelle Neigungen zu kultivieren". Die Experten warten dabei mit erstaunlichen Detailkenntnissen auf. "Sexuelle Dienste minderjähriger Prostituierter in Gothic-Aufmachung sind billiger als die eines Offiziersschülers, aber teurer als die gewöhnlicher homosexueller Prostituierter."

Ganz nebenbei erfuhr die russische Öffentlichkeit, dass die schmucken jungen Offiziersschüler der Kadettenanstalten nicht nur Patrioten zum Stolz gereichen, sondern auch eine feste Größe in der Szene darstellen. Gothics und Emo, urteilen die Sittenwächter, seien genauso gefährlich wie Skinheads und randalierende Fußballfans, sie sollten daher verboten werden. Den notorisch schwermütigen Emo-Anhängern wird überdies nachgesagt, sie hätten einen ausgeprägten Hang zum Suizid. Deren trübe Weltsicht stellt in der Tat einen Kontrast zur frohen Botschaft der staatlichen Medien über das paradiesische Leben in Russland dar. Beobachter fürchten, das restriktive Projekt könnte schon im Herbst von der Duma verabschiedet werden.

Jugendliche sehen das Treiben der Parlamentarier eher gelassen. Der 23-jährige Psychologiestudent Ilja, in Ohr und Braune gepierct, warnt vor voreiliger Panik: "Gesetz ist Gesetz, die Umsetzung folgt bei uns anderen Spielregeln." Dennoch halten er und seine Freunde den geplanten Eingriff in die Privatsphäre für falsch. "Vor Gesundheitsrisiken warnen ist wichtig, Eltern müssen beim Piercing gefragt werden", sagt Ilja. Alles andere ginge den Staat nichts an. Kindisch sei es, wenn sich Politiker mit solchen Dingen beschäftigten. Trends und Moden verschwinden von allein. Die Ethikkommissare wollen auch Spielzeuge und Süßigkeiten verbieten, die "Ängste" verursachen und "Unvereinbares miteinander verbinden". Lutscher in Form eines Skeletts fallen darunter.

Auch das aus Amerika importierte herbstliche Gespensterfest Halloween und den Valentinstag möchten die Abgeordneten aus dem Schulkalender streichen. Sie begründen dies damit, dass diese Feste entlehnt und mit kulturellen russischen Werten unvereinbar seien. Dazu gehören auch vulgäre umgangssprachliche Flüche per SMS, die von Providern blockiert werden sollen. Grundsätzlich hält die Kommission aber den Westen für den Urheber des Sittenverfalls. Unterweisung in sittlicher Lebensführung wird das neue Schulfach "Grundlagen der russisch-orthodoxen Kultur" übernehmen.

Ilja hält die drakonischen Maßnahmen für sinnlos. Die Jugend taucht ab in den Untergrund, meint er. Galina Koschewnikowa vom Antiextremismus-Zentrum Sova glaubt auch nicht an einen Erfolg. Im Gegenteil, die Subkulturen würden noch populärer.

Lew Gudkow vom soziologischen Meinungsforschungsinstitut Lewada-Zentrum hält die Rettungsmission für vorgeschoben. Ziel sei die ideologische Vereinnahmung der Jugend. "Das Gesetz wird nicht funktionieren, aber niemand erwartet das." Stattdessen hätte man ein neues Instrument, um unliebsame politische Opponenten und Jugendbewegungen selektiv zu unterdrücken. Jugendliche seien heute viel selbstbewusster als ihre Eltern. Sie bewegen sich freier und verlassen sich nicht mehr auf den Staat. In diesem Sinne sei die Jugend tatsächlich verloren. "Verloren für dieses Regime".

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