Menschenrechtler Tscherkassow: "Russland zahlt für Straflosigkeit"

Moskau hat die Lage im Nordkaukasus nicht mehr unter Kontrolle, sagt der Menschenrechtler Tscherkassow. Hinter den Anschlägen auf Vertreter des Staats stehe der islamistische Untergrund.

Tschetschenische Flüchtlingskinder blicken aus einem Auto-Rückfenster, aufgenommen in der Nähe der tschetschenisch-inguschetischen Grenze. Bild: dpa

taz: Herr Tscherkassow, tödliche Attentate, Verschleppungen, Geiselnahmen und Folter sind im Nordkaukasus an der Tagesordnung. Am Mittwoch und Donnerstag dieser Woche wurden in Inguschetien bei Anschlägen wieder mindestens sieben Menschen getötet. Hat sich die Situation im Vergleich zu vor zwei, drei Jahren verschlechtert?

Alexander Tscherkassow: Laut statistischen Angaben eindeutig ja. Allein in diesem Sommer sind im Nordkaukasus 140 Angehörige der staatlichen Strukturen ums Leben gekommen. Mehr als 280 Personen wurden verletzt. Diese Zahl ist zweimal höher als in den Sommermonaten der vergangenen Jahre. In Dagestan ist es jetzt zu einer Reihe von Verschleppungen und Morden gekommen. Die Opfer waren Menschen, die beschuldigt wurden, Verbindungen zum bewaffneten islamistischen Untergrund gehabt zu haben. Einige von ihnen waren schon einmal verhaftet und von Gerichten freigesprochen worden.

Wer steht hinter den Anschlägen auf Vertreter der Staatsmacht?

ist studierter Atomphysiker. Der 43-Jährige ist Mitglied im Rat des Menschenrechtszentrums der russischen Bürger- und Menschenrechtsorganisation Memorial und dort für den Nordkaukasus zuständig. Memorial wurde am vergangenen Mittwoch in Straßburg für ihre Zivilcourage mit dem Sacharow-Preis des EU-Parlaments ausgezeichnet.

Kämpfer des islamistischen Untergrunds.

Was sind das für Leute?

Wenn man sich ihre Videos und Texte auf ihrer Internetseite ansieht, dann ist diese Bewegung ein Teil der extremistischen islamischen Internationale. Diese Bewegung ist im gesamten Nordkaukasus aktiv. Sie haben sich zum Kaukasischen Emirat erklärt. Das ist eine Struktur, die keine konkreten politischen Ziele verfolgt. Denn der Aufbau eines islamischen Staates ist in ihren Augen kein politisches Ziel, so wie seinerzeit der Aufbau des Kommunismus. Niemand versteht, wie man mit ihnen einen Dialog führen soll. Man kann sie in zwei Gruppen teilen: Ideologen und normale Menschen, die sich ihnen zuwenden.

Warum schließen sich vor allem junge Menschen den radikalen Islamisten an?

Ein Grund ist, dass die traditionellen Strukturen in der gesamten Region schwach sind. Die sozialen Strukturen sind zerrüttet und entsprechen in keiner Weise den Vorstellungen von Moral. Der Protest dagegen treibt junge Menschen in die Arme der radikalen Islamisten. An dieser Entwicklung ist aber auch die Staatsmacht schuld. Denn der Staat agiert mit ungesetzlichen Methoden, um seine Gegner zu vernichten. Diesem sogenannten Antiterrorkampf fallen Menschen ganz willkürlich zum Opfer. Da reicht es schon, wenn jemand in die falsche Moschee geht.

Hat Moskau die Lage im Nordkaukasus überhaupt noch unter Kontrolle?

Das bezweifle ich. Vor zehn Jahren hatten wir es im Nordkaukasus mit Separatisten zu tun. Das waren Leute, die ein Programm hatten. Mit ihnen hätte man zu Übereinkünften kommen können. Doch schon damals sagte Moskau: Im Kaukasus sind Terroristen aktiv, mit denen keine Verhandlungen möglich sind. Heute ist dieses schreckliche Märchen Wirklichkeit geworden. In Inguschetien hat sich die Lage dramatisch verschärft. Dort ist jetzt der islamistische Untergrund weitaus aktiver als in Tschetschenien. In Tschetschenien wurde der Konflikt tschetschenisiert, indem die Macht von den föderalen Instanzen an die örtlichen Machthaber übergeben wurde. Das brachte am Anfang einige Resultate, weil die tschetschenischen Machthaber trennschärfer agierten. So wurden nicht mehr ganze Dörfer "ethnisch gesäubert" und die Menschen dort gefoltert. Vielmehr richteten sich die Aktionen gegen konkrete Leute, wenn auch mit den gleichen ungesetzlichen Methoden. Strukturen von föderaler Seite, die das kontrollieren könnten, gibt es nicht mehr. Doch ist es auch Kadyrow bislang nicht gelungen, den islamistischen Untergrund zu zerstören.

Wie würden Sie das derzeitige Regime Kadyrows im Moment charakterisieren?

Dieses Regime erinnert an den sowjetischen Totalitarismus in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Überall hängt Kadyrows Porträt, im Fernsehen ist er omnipräsent. Es herrscht Angst. Die Menschen, deren Angehörige verschleppt werden, trauen sich nicht, Anzeige zu erstatten, weil sie wissen, dass das sinnlos ist. In den vergangenen Jahren sind zwischen 3.000 und 5.000 Menschen verschwunden. Zudem werden Methoden zur kollektiven Bestrafung angewandt. In den vergangenen Jahren wurde Dutzende Häuser von Angehörigen von islamistischen Kämpfern niedergebrannt, die keine Beziehung zum islamistischen Untergrund hatten. Angst spielte auch im Fall der Menschenrechtlerin Natalja Estemirowa eine Rolle.

Inwiefern?

Es gab zwei Zeuginnen, die die Entführung beobachteten, die Entführer sahen und das Kennzeichen des Wagens, in dem sie weggebracht wurde. Die beiden sagten keinem Menschen etwas davon, nicht einmal Nataljas Tochter. Noch vor ein paar Jahren wäre eine Reaktion sehr schnell erfolgt.

Wer ist für den Mord an Estemirowa verantwortlich?

Schauen wir uns den Ablauf der Ereignisse an. Am 7. Juni wurden in dem Dorf Achkintschu-Borsoj zwei Männer verschleppt und einer davon öffentlich erschossen. Einer der an der Aktion beteiligten Milizionäre ist namentlich bekannt. Am 9. Juni machte Natalja diese Information auf der Internetseite "Kaukasischer Knoten" öffentlich und unterschrieb mit ihrem Namen. Am 10. Juni bestellte der tschetschenischen Menschenrechtsbeauftragte auf Befehl von Kadyrow die Mitarbeiter von Memorial ein und redete auf sie ein. Doch offensichtlich sprach Kadyrow auch noch mit anderen Untergebenen. Am 15. Juni wurde Natalja verschleppt und in Inguschetien getötet. Wenn wir keine Zeugen gefunden hätten, hätte es einfach geheißen, der Körper Nataljas sei in einer anderen Republik gefunden worden. Es ging darum, die Spur aus Tschetschenien zu verwischen.

Ramsan Kadyrow hat unlängst einen Prozess gegen Memorial vor einem Moskauer Gericht gewonnen. Jetzt muss die Organisation dem tschetschenischen Präsidenten Schadensersatz dafür zahlen, dass der Memorial-Vorsitzende Oleg Orlow Kadyrow für den Mord an Natalja Estemirowa verantwortlich gemacht hat. Haben Sie dieses Urteil erwartet?

Viele meinen, dass dieses Urteil ein Sieg für Memorial ist. Dafür, dass man Kadyrow als Mörder bezeichnet, muss man 7.000 Rubel bezahlen. Für mich war diese Gerichtsentscheidung erwartbar. Dennoch war ich maßlos enttäuscht, aber vielleicht verlange ich auch zu viel, vor allem Gerechtigkeit.

Wird Memorial in die nächste Instanz gehen?

Wir werden dieses Urteil anfechten. Wenn wir vor keinem russischen Gericht Erfolg haben, werden wir vor den Europäischen Menschengerichtshof in Straßburg ziehen.

Könnte die instabile Situation im Nordkaukasus einen Dominoeffekt in anderen Republiken der russischen Föderation haben?

Die islamistische Bewegung hat auch andernorts in Russland Chancen, an Stärke zu gewinnen. Nämlich dort, wo Muslime mit den bekannten kontraproduktiven Methoden bekämpft werden. So könnten sich aus islamistischen Gruppen, die nicht auf Gewalt orientiert sind, Leute rekrutieren, die bereit zum Dschihad sind. Es gibt noch ein weiteres Problem. Alle führenden Vertreter der russischen Machtstrukturen waren in Tschetschenien. Dort haben sie erlebt, wie Gesetzlosigkeit und Gewalt um sich greifen und die Schuldigen nicht bestraft werden. Diese Erfahrungen prägen sie in ihrer weiteren Arbeit. So wissen wir von einer "ethnischen Säuberung" 2004 in einer Stadt in Baschkirien. Der Aktion fielen rund 1.000 Menschen zum Opfer. Durchgeführt wurde sie von Milizionären, die erst kurz zuvor aus Tschetschenien zurückgekehrt waren.

Gibt es einen Ausweg aus dieser Situation?

Die Handlungen der Machthaber müssen sich im Rahmen von Gesetzen bewegen. Diejenigen, die diese Gesetze verletzen und die für Verschleppungen und Folter verantwortlich sind, müssen vor Gericht gestellt werden. Das könnte perspektivisch die Menschen wieder an die Staatsmacht binden.

Sehen Sie Ansätze für eine solche Entwicklung?

Ja, und zwar in der Person des inguschetischen Präsidenten Junus-bek Jewkurow. Er sucht den Dialog mit allen Seiten. Ihm könnte es gelingen, die Gesellschaft wieder zu konsolidieren, wenn er es schafft zu zeigen, dass sein Ziel der Schutz der Bevölkerung vor den Terroristen ist und nicht die Vernichtung jener, die mit den Terroristen in Verbindung gebracht werden. Durch diese Vorgehensweise wurde er übrigens selbst zur Zielscheibe der Terroristen, weil er für sie gefährlich ist.

Wie beurteilen Sie das Verhalten der internationalen Staatengemeinschaft gegenüber Russland angesichts der Lage im Nordkaukasus?

Die internationale Staatengemeinschaft hat genau wie Europa keine Strategie. Das, was wir sehen, ist die Folge von taktischen Entscheidungen, die einem Verrat gleichkommen. Verurteilungen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte führen allenfalls dazu, dass Russland Entschädigungen zahlt. Ansonsten ändert sich nichts, nichts an der Rechtssprechung und nichts institutionell, wie es nach solchen Urteilen sein müsste. Das heißt, Russland zahlt eine Art Steuer für Straflosigkeit. Warum das so ist, ist klar. Von dem Moment an, wo ein Barrel Öl 100 Dollar kostete und Druck auf Russland auszuüben unmöglich wurde, gingen die europäischen Bürokraten zu einer interessanten Taktik über: Sie ließen es zu, dass sich Russland das Schweigen des Westens quasi erkaufte. Doch massenhafte Menschenrechtsverletzungen sind nicht die innere Angelegenheit eines Staates. Denn solch ein Staat kann zu einer unberechenbaren Bedrohung für den internationalen Frieden und die internationale Sicherheit werden.

Haben Sie bei Ihrer Arbeit selbst manchmal Angst und daran gedacht, beruflich etwas anderes zu machen?

Solange meine Kollegen im Kaukasus arbeiten, wäre es für mich merkwürdig aufzuhören. Dennoch würde ich nicht sagen, dass ich mich nicht fürchte. Ich verstehe, wie gefährlich die Situation ist. Doch es gibt Leute, die sich in weitaus gefährlicheren Situationen befinden als ich. Mein Kollege Oleg Orlow wurde 2007 in Inguschetien verschleppt, und die Entführer drohten, ihn zu erschießen. Einige Wochen nach seiner Freilassung reiste er wieder nach Inguschetien.

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