Streik in Serbien: Selbstverstümmelung aus Protest

Mit einer ungewöhnlichen Aktion machen Textilarbeiter auf ihre verzweifelte Lage aufmerksam. Sie schneiden sich Gliedmaßen ab.

BELGRAD taz | Die folgende Szene sei ausgesprochen brutal, warnte Freitagabend der Moderator der Hauptnachrichtensendung des serbischen Fernsehsenders TV B92. Danach sah man einen etwa fünfzigjährigen, sichtlich erschöpften Mann, der seinen eigenen Finger, den er sich zuvor abgeschnitten hatte, in der Hand hält und in den Mund steckt. Der Akt des Kauens und Verzehrens wurde dann doch nicht explizit gezeigt.

Es handelte sich dabei nicht um einen exhibitionistisch veranlagten Kannibalen, sondern um Zoran Bulatovic, den Vorsitzenden des Verbandes der Textilarbeiter in der Stadt Novi Pazar. Die Arbeiter sind wegen ihrer schwierigen sozialen Lage vergangene Woche in den Hungerstreik getreten. Er habe seinen Finger nicht aus Lust und Laune gegessen, sondern weil die Situation der rund 4.000 Arbeiter der Textilfabrik Raska "unerträglich" geworden sei, erklärte Bulatovic. Andere Kollegen würden ab Montag den Protest radikalisieren und seinem Beispiel folgen, falls die serbische Regierung nicht ihre Vertreter nach Novi Pazar schicke. "Jeden Tag ein Finger", sagte Bulatovic, bis man ihre Forderungen erfülle.

Ja, auch sie werde ihren Finger abhacken, bestätigte die alleinerziehende Mutter Senada Rebronja. Denn die Textilarbeiter hätten seit 1993 kein Gehalt bekommen und wüssten nicht mehr, was sie tun sollen. Sie könnten Strom und Wasser nicht mehr bezahlen und hätten kein Geld, ihre Kinder zu ernähren. Aus Angst, dass die Polizei ihren Protest mit Gewalt beenden könnte, verbarrikadierten sich die Arbeiter der Fabrik Raska in einem Gebäude. Wenn nichts geschehe, würden sie alle mit ihren Familien, rund 6.000 Menschen, vor der Regierung in Belgrad ihren Protest fortsetzen und sich einer nach dem anderen die Finger abschneiden.

Die serbische Regierung, die wegen der Wirtschaftskrise harte Sparmaßnahmen ergriffen hat, warnte zuvor, dass sie sozialen Protesten nicht nachgeben werde. Man habe einfach nicht die Mittel, um jedem entgegenzukommen, erklärte Premier Mirko Cvetkovic. Er appellierte an die Bürger, sich vernünftig und solidarisch zu verhalten, weil die Staatskasse leer sei.

Auf diese Art des Gewerkschaftskampfes war allerdings niemand vorbereitet. Der serbische Arbeits- und Sozialminister Rasim Ljajic, der selbst aus Novi Pazar stammt, flehte die Textilarbeiter an, mit der Selbstverstümmelung aufzuhören. Er versprach, die Eigentumsverhältnisse der Textilfabrik nochmals zu überprüfen. Auch serbische Gewerkschaftsführer riefen die Textilarbeiter in Novi Pazar dazu auf, auf weitere radikale Schritte zu verzichten.

Noch vor der allgemeinen Wirtschaftskrise betrug die Arbeitslosigkeit in Serbien offiziell 18,1 Prozent, tatsächlich dürfte sie aber bei 25 Prozent liegen. Und die Lage verschlechtert sich von Woche und zu Woche. In einzelnen Provinzstädten, wie in Novi Pazar, hat jeder Zweite keinen Job. Vor allem junge Leute und Menschen über fünfzig sind von der Arbeitslosigkeit betroffen. Soziologen und Psychologen warnen vor der Verzweiflung der Menschen, die die Hoffnung auf ein besseres Leben verloren haben. Provokatives Verhalten von Einzelpersonen oder einzelnen Gruppen könnte ein Massenphänomen werden.

Serbien befindet sich seit Anfang der 90er-Jahre in der Krise. Die aktuelle Wirtschaftskrise trifft Menschen, die sich noch nicht von einem Jahrzehnt, das von Kriegen, nationalistischem Wahn und internationaler Isolation geprägt war, erholt haben.

Die serbische Koalitionsregierung, die nur über eine knappe parlamentarische Mehrheit verfügt, sieht sich einer allgemeinen Depression und einem sozialen Pulverfass gegenüber. Noch ist völlig unabsehbar, wie die Menschen ihrer allgemeinen Unzufriedenheit Ausdruck verleihen werden. Der Fall Zoran Bulatovic zeigt, wie alarmierend die Situation ist.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.