Frankreich sperrt Atomkritiker ein: Wie leicht man zum Terroristen wird

Frankreichs Behörden jagen eine "terroristische Vereinigung". Die atomfeindlichen jungen Leute landen im Gefängnis, ein vermeintliches Bekennerschreiben bei der taz.

Achtung gefährlich: Französische Anti-Atom-Aktivisten müssen verwirrte Behörden fürchten. Bild: dpa

PARIS taz Die Entdeckung einer neuen "terroristischen Vereinigung" in der tiefen Provinz hat tagelang hohe Wellen in Frankreich geschlagen. Innenministerin Michèle Alliot-Marie identifizierte gefährliche "Ultralinke" und kreierte eigens für sie das Etikett: "Anarcho-Autonome". Noch während 150 Polizisten, in Begleitung mehrerer Fernsehteams, am 11. November den Bauernhof in dem 300-Einwohner-Dorf Tarnac durchsuchten, machte die Innenministerin neun junge Leute für Sabotageakte an Oberleitungen von vier französischen Bahnstrecken verantwortlich. Und bevor eine Anklage erhoben war, benutzte der Pariser Staatsanwalt Jean-Claude Marin in einer anderen Pressekonferenz bereits das Adjektiv "terroristisch".

Zwei Monate danach sind die Anti-Terror-Fahnder und -Politiker in Paris kaum noch zu hören. Stattdessen haben Familienangehörige, Nachbarn aus Tarnac, Oppositionspolitiker und 40 Unterstützerkomitees im Frankreich und dem Ausland die öffentliche Meinung gewonnen.

Sie zeichnen ein Bild von politisch links stehenden jungen Leuten. Die den Staat und den Konsumerismus kritisieren, die in einer Wohngemeinschaft leben, die Landwirtschaft betreiben und die den stillgelegten Laden in einem winzigen Dorf wieder in Betrieb genommen haben. Mit "Terrorismus" hat das nichts zu tun. Wohl aber mit den kaum nachvollziehbaren Exzessen einer vermeintlichen Anti-Terror-Justiz. Für den 31. Januar rufen die Freunde der Angeklagten zu einer Demonstration in Paris auf. "Gegen den Antiterrorismus als Regierungsform" steht auf ihrem Plakat. Ein Spitzenpolitiker der PS, der Richter André Vallini, erklärt, dass in dieser Affäre ein juristisches Grundprinzip außer Kraft gesetzt worden sei: "Die Freiheit muss die Regel sein, die Inhaftierung die Ausnahme."

Beinahe klammheimlich ist die Justiz in den vergangenen Wochen zurückgekrebst. Peu à peu hat sie die gefährlichen Terroristen aus der Haft entlassen. Als vorerst Letzte verließ vergangenen Freitag die 25-jährige Yldune L das Gefängnis. In den vorausgegangenen zwei Monaten war die Studentin nächtens alle zwei Stunden in ihrer Zelle geweckt worden. Jetzt sitzt nur noch der 34-jährige Julien Coupat. Die Justiz bezeichnet den Intellektuellen als "Anführer" der "unsichtbaren Zelle".

Coupats aktivster Verteidiger ist sein Vater. Der pensionierte Kardiologe Gérard Coupat hatte nach seinem ersten Fernsehauftritt im November, in dem er sagte, sein Sohn sei kein Terrorist, einen Anruf aus dem Gericht erhalten. Er gefährde die Ruhe der Ermittlungen und das werde "Folgen" haben, ließ ihm der zuständige Untersuchungsrichter ausrichten. Danach verzichtete Coupat senior eine Zeitlang auf öffentliche Auftritte. Doch inzwischen gibt der Vater wieder Interviews. Spricht von der "Verbissenheit" der Anti-Terror-Justiz. Nennt die jungen Leute "Sündenböcke". Und bezeichnet die Innenministerin als "die eigentliche Terroristin".

Nach Ansicht der Angehörigen ermittelt die Justiz ausschließlich "belastend". Deswegen haben sie selber den Part übernommen, entlastendes Material zu suchen. Dabei ist einiges zusammengekommen. Unter anderem haben sie bei Technikern der französischen Bahn erfahren, dass das Anbringen von Hakenkrallen an den 25.000 Volt führenden Oberleitungen der betroffenen vier Bahnstrecken eine schwierige Angelegenheit sei. Da die Polizei seinen Sohn sechs Monate vor dessen Verhaftung rund um die Uhr beschattet und jede seiner Aktivitäten aufgelistet hat, weiß der Vater auch aus einem 15-seitigen Polizeibericht, dass Julien zwar kritisch ist, aber nichts Illegales getan hat.

Fragen wirft auch ein "Bekennerschreiben" auf, das im November 2008 bei der taz eingegangen ist. Unter der Überschrift "Wir haben es satt" werden in sieben Absätzen "Hakenkrallen" und Brandanschläge auf deutsche und französische Bahnstrecken als Widerstandsformen erklärt. Als Begründung liefert das "Bekennerschreiben" einerseits einen Atommülltransport von La Hague nach Gorleben, andererseits eine generelle Kapitalismuskritik.

Gabrielle H, die ebenfalls am 11. November in Tarnac inhaftiert worden war, berichtet, dass die Polizei ihr bereits im ersten Verhör dieses "Bekennerschreiben" vorgelesen hat. Doch es ist es ein Rätsel, wie das Schreiben überhaupt in die Hände der Polizei geriet. Die französische Anti-Terror-Justiz erklärt bislang nur, das Bekennerschreiben sei bei der Berliner Zeitung eingegangen und die habe es an die die Polizei weitergegeben. Doch die Berliner Zeitung bestreitet - sowohl gegenüber der taz als auch gegenüber französischen Medien -, dass sie ein solches Bekennerschreiben erhalten hat. Bekannt ist hingegen ein (inhaltlich identisches) Bekennerschreiben, das im November bei der taz einging. Doch die taz hat darüber erstmals am 13. Dezember berichtet. Und bis heute hat sich kein Ermittler dafür interessiert.

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