Neun Thesen, keine Erklärung: Plötzlicher Tor-Rausch in der Bundesliga

Das Fußballland jubelt über die torreichen ersten beiden Spieltage. Zeit für eine Bilanz. Neun mehr oder weniger kühne Thesen, die den Saisonauftakt auch nicht erklären.

Im Zweifelsfall hat der Ball Schuld. Bild: dpa

Die Taktik ist frei: Die Neuzugänge, die schon da sind, haben sich noch nicht integriert. Die Transferperiode endet nach den ersten zwei Spieltagen. Erst wenn feststeht, mit welchem Kader die Mannschaften durch die Saison gehen werden, kann die endgültige Taktik festgelegt werden. Davor geschehen Dinge, die zu einem späteren Zeitpunkt in der Saison nie und nimmer vorkommen würden. Das 6:3 der Gladbacher in Leverkusen hat bisweilen so ausgesehen, als stünden sich zwei Freizeitkickerteams gegenüber. Wolfsburgs Trainer Steve McLaren brachte es auf den Punkt: "Im Grund beginnt meine Arbeit jetzt wieder von vorn", sagte er, als Neuzugang Diego vorgestellt wurde.

Der Ball ist schuld: Zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesliga wird mit einem Einheitsball gespielt. Der heißt Torfabrik und war bei der WM in anderem Gewand als Jabulani unterwegs. Beinahe jeder Torwart hat sich seinerzeit darüber beschwert, dass der Ball so gut wie nicht zu halten ist. Die keependen Kritiker scheinen recht zu haben. 67 Tore sind an den ersten zwei Spieltagen gefallen - das hat es 24 Jahre nicht mehr gegeben. Aber warum sind dann in Südafrika die Dämme nicht gebrochen? Woran liegt also die Torflut? Gibt es eine Absprache der Deutschen Fußballliga mit dem Ballsponsor? Wurde da festgeschrieben, dass torlose Unentschieden mit einem Ball namens Torfabrik verboten sind?

Die Alten können hinten nicht mehr: Michael Ballack wird im September 34 Jahre alt. Ende August konnte er nicht verhindern, dass Bayer Leverkusen sechs Tore gegen Borussia Mönchengladbach kassiert hat. Christoph Metzelder hat als 22-jähriger Bursche bei der Weltmeisterschaft 2002 in Japan und Südkorea Deutschland zur Vizeweltmeisterschaft verteidigt. Heute kann er nicht einmal mehr eine Mannschaft wie Hannover 96 abwehren. These: Das Spiel in der Verteidigung hat sich so verändert, dass man - anders als früher - im Karriereherbst nicht mehr als Stabilisator eines Teams funktionieren kann. Aber haben wir in der letzten Saison nicht Leverkusens 36-jährigen Finnen Sami Hyypiä gefeiert? Er hat gerade seinen Vertrag bis 2012 verlängert. Was das wohl zu bedeuten hat?

Das Wetter spielt mit: August in Deutschland. Hitze treibt den Zuschauern im Stadion Dauerschweiß auf die Stirne. Unten auf dem Rasen, da wo es keinen Schatten gibt, in dem die Temperur bei lediglich 30 Grad liegt, versuchen Männer, Fußball zu spielen. Meist vergebens. Für die heißen Partien, in denen die Spieler alles versucht haben, um bloß nicht mehr ins Schwitzen zu kommen als das Publikum, wurde das Wort Sommerfußball erfunden. Ja, das war mal so. Und heute? Ohne Sommer kein Sommerfußball. Die Folge: jede Menge Tore.

Werbung fürs Gehalt: Der Bezahlsender Sky kommt auf keinen grünen Zweig. Jetzt will er, so wurde gemeldet, 50 Kontrolleure anwerben, die in Kneipen und Hotels nachsehen sollen, ob es mit rechten Dingen zugeht, wenn dort den Gästen Livespiele via Sky gezeigt werden. Die Firma muss wirklich am Ende sein. Kein gutes Zeichen für die Bundesliga, die 1,65 Milliarden Euro für die Übertragungsrechte an vier Spielzeiten kassiert. Nur wenn das Geld fließt, können die Spieler so schön reich werden, wie das derzeit der Fall ist. Wenn sie weiter so anrennen wie bisher, könnte es gut sein, dass aus den Deutschen doch noch leidenschafliche Bezahlfernsehzuschauer werden. Und Rupert Murdoch muss nicht mehr gar so viel Geld nachlegen für sein deutsches Pay-TV-Experiment.

Joachim Löw sorgt für die Torflut: Die Nationalmannschaft hat die Herzen einer ganzen Nation erobert. Wie? Mit Offensivfußball. Und weil alle geliebt werden wollen - auch Mannschaften wie Mönchengladbach -, wird nun gestürmt, was das Zeug hält. Das Kompetenzzentrum des deutschen Fußballs liege bei der Nationalmannschaft, das hat der Bundestrainer immer wieder gesagt. Die Strahlkraft des DFB-Teams scheint immens zu sein. Statt zu mauern, stürmen auch und gerade die Mannschaften, die sich früher nur eingemauert hätten, die Kleinen: Kaiserslautern hat schon fünf Tore geschossen, Mainz sechs und Gladbach gar sieben - Joachim Löw sei Dank.

Es gibt keinen Respekt: Kaiserslautern, Hoffenheim, Mainz - drei Mannschaften stehen an der Spitze der Tabelle, die da eigentlich nichts verloren haben. Ein längst abgehalfterter und gerade noch nicht vergessener Traditionsklub, ein mit Privatmillionen gepäppelter Emporkömmling und ein selbst ernannter Karnevalsverein. In Deutschland hat das Tradition. Da gibt es sogar am Ende einer Saison noch Sensationen und wahrhafte Überraschungsmeister. Auch ein Klub wie der VfB Stuttgart darf mal Meister werden oder der VfL Wolfsburg. Und eine Mannschaft, die oben mitspielt, kann im Jahr darauf absteigen, siehe Hertha BSC - bei Schalke weiß man es ja noch nicht. Anders als in anderen Ligen, in denen die Tabellenspitze seit Jahren zementiert ist, gibt es in Deutschland das Bewusstsein, dass es nicht verboten ist, auch einmal eine große Mannschaft zu schlagen. Und auch wenn sie es an der Säbener Straße nicht so gern hören: Der FC Bayern wird im Schnitt nicht einmal jede zweite Saison Deutscher Meister.

Virtueller Sport erobert den realen: "Das ist kein echter Fußball, das ist Playstation." Mit diesen Worten kommentierte Carlos Ancelotti, der Trainer des FC Chelsea, den zweiten 6:0-Sieg des englischen Meisters am zweiten Spieltag der englischen Liga. Doch der virtuelle Fußball hat längst mehr Einfluss auf den echten, als es Mister Ancelotti vermutet. Seit Lionel Messi zugegeben hat, dass er sich selbst auf der Playstation spielt, wird vermutet, dass er die ruckartigen Richtungsänderungen seiner Figur im Videospiel auf dem Platz imitiert und genau deshalb so schwer auszurechnen ist. In die Bundesliga kommen immer mehr junge Spieler, für die - weil sie mit der Playstation sozialisiert wurden - ein Fußballspiel normal verläuft, wenn mindestens fünf Tore fallen. These: Ein 6:3-Auswärtssieg von Mönchengladbach in Leverkusen wäre ohne Playstation nicht möglich gewesen. Wie aber haben die Gladbacher es 1971 geschafft, Inter Mailand mit 7:1 zu schlagen? War doch der Büchsenwurf aus der Fankurve, nach dem der Mailänder Roberto Bonisegna zu Boden sank, dafür verantwortlich? Playstation gab es ja noch nicht.

Neue Helden: Zu Saisonbeginn ist der Kampf um Stammplätze oft noch nicht entschieden. Wer wagt und gewinnt, kann bei seinem Trainer punkten. Ein paar junge Männer haben genau diese Chance genutzt. Mario Götze ist einer von ihnen, der 18-jährige Schütze des dritten Dortmunder Tors in Stuttgart. Wenn die echten Stars noch nicht so richtig aus den Startlöchern gekommen sind, ist es nicht ganz so schwer, auf sich aufmerksam zu machen. Das Duell, das der billige Mainzer Ungar Adam Szalai gegen Wolfsburgs teuren dänischen Verteidiger Simon Kjaer vor seinem 4:3-Siegtreffer gewonnen hat, hätte vielleicht nicht stattgefunden, wenn schon feststehen würde, dass eine Mannschaft gegen den Abstieg jeden Punkt braucht und die andere im Kampf um den Titel keinen Punkt verlieren möchte. Das Spiel ist freier zu Saisonbeginn.

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