die wahrheit: Gangsta mit Einser-Abi

Verarmte Bildungsbürger terrorisieren soziale Brennpunkte.

Feinsinnige Aquarelle verdrängen die gewohnten Graffitis im Block Bild: ap

Nervös blickt Kevin über die Schulter. Der sichtlich vor seiner Zeit gealterte Gangsta duckt sich an den beschmierten Hauswänden entlang, die mit frischen "Tags" aus blauen Füllfederhaltern und größeren "Pieces" übersät sind, die meist in Aquarell ausgeführt sind. Die kunstvollen Graffiti früherer Zeiten, für deren beste einst Kevin selbst verantwortlich zeichnete, sind darunter nur mehr als blasse Schemen zu erkennen, als archäologische Ablagerungen einer untergegangenen Zivilisation.

"Das hier war vielleicht nicht das Paradies", sagt Kevin und weist mit resignierter Handbewegung auf die grauen Waschbetonfassaden der Wohnblocks, "aber alle haben zusammengehalten, auch wenn sie miteinander mal ,Beef' hatten. Jetzt ist es einfach nur noch kaputt und krank. Außerdem heißt ,Beef' jetzt Rindfleisch, weil sie keine Anglizismen mögen."

Sie, das sind zum Beispiel jene vier jungen Männer, die uns mit demonstrativer Langsamkeit entgegenschlendern, scheinbar absichtslos, doch mit unverkennbar drohender Haltung. Sie tragen das Haar viertellang, im eleganten Schwung über die Brauen gekämmt. Es sind beinahe Kinder, deren weiche Züge an die leicht anämische Schönheit präraffaelitischer Gemälde erinnern, doch ihr Blick spricht ebenso beredt von trotziger Arroganz wie von tiefer Verletztheit.

Einer hebt sein blaues Hemd, diese Geste gilt uns, sie gibt den Blick frei auf eine Reclam-Ausgabe des "Werther" und eine halbautomatische Waffe, die in seinem Hosenbund stecken, darüber wölbt sich eine Tätowierung: "Bildungsbürger" steht in Frakturschrift auf dem mageren Knabenkörper. Kevin senkt den Blick und wechselt die Straßenseite, den Kampf um seinen Block hat er längst verloren gegeben. "Es sind zu viele", murmelt er, "und das Schlimmste sind die ewigen Etüden am Sonntagmorgen."

"Wir haben es hier mit Angehörigen der ehemaligen Mittelschicht zu tun", erklärt Sozialpädagoge Mesut Ürümci, "deren Eltern während der Krise Townhaus und Opernabonnement verloren haben und die sich nun rubbeldiekatz in zugigen Sozialwohnungen wiederfinden. Ihre Welt ist untergegangen, doch sie halten verbissen an überkommenen Wertvorstellungen fest, das führt unweigerlich zu Konflikten mit der autochthonen Bevölkerung." Der Pädagoge entschuldigt sich, hastet nach draußen und entwindet eine Gruppe broilerbraun gebrannter Bodybuilder dem Griff eines enthemmt auf sie eindreschenden Hänflings, der sie des falschen Gebrauchs eines Apostrophs überführt zu haben glaubt.

"Sie sehen ja selbst, was hier los ist", sagt Ürümci. "Ganze Straßenzüge pauperisierter Bildungsbürger sind geschlossen aus ihren Gründerzeithäusern in diese Blocks übergesiedelt, das hat natürlich die Sozialstruktur völlig auf den Kopf gestellt, zumal die Neuankömmlinge zu keiner Integrationsleistung bereit sind. Sie leben abgeschirmt und verkehren nur untereinander, sogar ihre eigenen Klavierlehrer haben sie mitgebracht."

Ürümci versucht dennoch, sich auf die Bedürfnisse seiner neuen Klientel einzustellen. In seinem Jugendzentrum bietet er neuerdings Workshops in Seidenmalerei und Spielabende an. "Besonders die Aquarellkurse sind beliebt", erklärt Ürümci. "Wir tun alles, um diese Jugendlichen von der Straße wegzubekommen." Sogar in das Gesamtwerk von Blumfeld hat sich der approbierte Rapper Ürümci eingearbeitet, um die Lebenswelt seiner Klienten besser zu verstehen. "Grauenhaftes Zeug, das macht die Kids aggressiv", gibt er zu. Große Hoffnungen hegt Ürümci nicht, seine Schützlinge zurück in die Gesellschaft führen zu können; er spricht von einer verlorenen Generation.

"Diese Kinder haben vollkommen illusorische Vorstellungen von ihrer Zukunft, sie wollen irgendwas mit Medien machen oder nach der Schule erst mal ein Jahr ins Ausland gehen." Der engagierte Pädagoge seufzt. "Dabei ist es für mich schon ein großer Erfolg, wenn ich einen von ihnen als Aushilfe im Sonnenstudio unterbringen kann."

Hilfe seitens der Eltern gebe es kaum, sagt Ürümci, die wollten mit ihm bloß über aktuelle Inszenierungen oder die neue Spex diskutieren. Kevin gesellt sich zu uns. Mit unbeteiligter Miene erzählt er, dass man ihm unlängst aufgelauert habe, um ihm mit vorgehaltener Waffe französische Verben abzuhören. "Sogar die unregelmäßigen", berichtet er stockend über den Überfall der in diesem Viertel gefürchteten "Abi-1,0-Boys", einer Jugendbande musischen Zweigs.

"Es gibt mittlerweile No-go-Areas, die man ohne allgemeine Hochschulreife nicht mehr passieren kann", pflichtet Ürümci bei, während Kevin den Prozess fortschreitender Entgrenzung im interkulturellen Diskurs anprangert. "Mein Gott, er redet schon wie die", sagt Ürümci und schüttelt den Kopf. "Das ist nicht mehr der soziale Brennpunkt, den ich kennen und lieben gelernt habe, das hier ist die Hölle."

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