die wahrheit: Vom Ich zum Sich

SPRACHKRITIK Das postponierte Reflexivum auf neuen alten Wegen

In der Selbstbespiegelung findet das Ich sich sicher eher wieder als in der Reflexion über das Andere. Bild: reuters

Dass Theodor W. Adorno und seine Schüler das nachgestellte Wörtchen "sich" auf die Fahnen sich geschrieben hatten, sprach als ein komisches Merkmal und Mätzchen der Frankfurter Schule herum sich spätestens, als Eckhard Henscheid 1971 in seinem Aufsatz "Die gespaltene Linke oder Dialektik des postponierten Reflexivums" darüber sich verlustierte.

Diese Mode hat heute überlebt sich, das Reflexivpronomen hat sich an seine übliche Satzposition zurückbegeben. Genauer gesagt: Es hat sich nicht nur an seine übliche Satzposition zurückbegeben, sondern sich in Sätze eingeschlichen, in denen es "sich" niemand erwartet: Wer scheinbar normale Schlagzeilen wie "Berliner Philharmoniker wählen sich einen neuen Chefdirigenten" (Die Zeit) oder Formulierungen à la "wer sich das Verhalten der USA gegenüber der UNO einmal näher betrachtet" (taz) einmal näher betrachtet, "muss sich zugeben" (Der Spiegel), dass das "sich" jedes Mal überflüssig ist.

"Klar lotet man sich innerlich immer alle Möglichkeiten aus", redet es aus Sami Khedira nach dem Fußballweltmeisterschaftsspiel 2010 gegen Ghana, das Reflexiv aber lotet sich sogar alle Unmöglichkeiten aus: "Über Jahrzehnte wagte sich kein schwarzer Boxer mehr aufzutreten wie Johnson", schreibt der Spiegel über den selbstbewussten ersten schwarzen Boxweltmeister im Schwergewicht von 1908. Sogar die Dichtersleute wagen sich dasselbe: "Schließlich, nach Wochen täglicher Abwehr, findet man sich, obwohl noch ein wenig verwirrt, zu sich selber zurück", dichtet Rainer Maria Rilke in den "Briefen an einen jungen Dichter".

Die Dichter der Vergangenheit waren, wie man weiß, oft schwer an Individualität erkrankt. Heute ist das anders, auch gewöhnliche Leute pochen auf die ihre. Millionen und Abermillionen halten sich für einzigartig, und so ist es paradoxerweise der im Großen konformistische und im Einzelnen individualistische Zeitgeist, der "sich verantwortlich zeichnet" (Spiegel, taz) für diesen Tick: Im rückbezüglichen Fürwort verrät sich ungewollt ein Selbstbezug, eine Egozentrik, die nichts kennt als die eigene wertvolle Person.

"Ich wünsche mir, dass auch die einfachsten Arbeiter gesundheitlich gut versorgt werden, dass sie nicht früher sterben als die Führungskräfte. Ich wünsche mir, dass auch ein Billigarbeiter als wertvoller Mensch zählt, auf dessen Leben es genauso ankommt wie auf das eines reichen Managers. Ich wünsche mir, dass keine Arbeit krank macht", beschließt der Soziologe Frank Hertel sein Buch "Knochenarbeit. Ein Frontbericht aus der Wohlstandsgesellschaft" - doch warum wünscht er es sich statt den anderen, den Betroffenen? Geht es ihm in Wahrheit mehr um sein seelisches Wohlgefühl, das nicht durch die Existenz unmoralischer Zustände da draußen gestört werden soll? Hauptsache nämlich, man "ist mit sich rundum glücklich" (Hannoversche Allgemeine)!

"Ich Ich Ich", betitelte Robert Gernhardt selbstironisch und den Zeitgeist auf eine Formel bringend 1982 seinen Roman; "Sich Sich Sich" wäre die Überschrift für die Gegenwart, in der sich der Individualismus dem Autismus nähert. Der kann harmlos bleiben wie in solchen Sätzen: "Damit eroberte sich das Team von Markus Babbel die Tabellenführung zurück" (NDR 4). Er kann aber, wie bei schweren Autisten nicht selten, lebensbedrohlich werden: "Die Männer pellen sich die Haut ab und essen den Fisch", berichtet die Westdeutsche Allgemeine - gesunde Männer hätten dem Fisch die Haut abgezogen.

"Ich hätte mir gehofft" (ein Hörer auf NDR 4), dass man sich von der Zukunft mehr Sprachbewusstsein gehoffen darf. Doch wenn im ZDF ein Hänschen tönt: "Man lernt, sich mit den Tieren gut auszukommen", so wird Hans kaum mehr lernen, sich mit der Sprache gut auszukommen. Es lässt sich auch wenig gehoffen, wenn in der Jungen Welt der junge Aktivist "Juri" sagt: "Mit einem linken Anwalt habe ich mich vorsichtshalber schon konsultiert" - über seine missratene Sprache hat er sich gewiss nicht konsultiert.

Würde man von der taz zu diesem Thema interviewt, so fragte der Reporter beziehungsweise die Reporterin wahrscheinlich, wie bereits mehrfach geschehen: "Wie erklären Sie sich das?" Überraschenderweise haben es die Interviewten aber dann doch den Reportern und damit den Lesern der taz erklärt. Dieser Text hier ist zwar kein Interview, aber trotzdem gehoffe ich mir, dass Sie für sich mit ihm zufrieden sind. Das ist sich schließlich die Hauptsache! Andernfalls hört sich doch der Spaß auf.

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kari

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