die wahrheit: Zwölf Stunden Scheine zählen

Die weltweiten Folgen der Finanzkrise: Das Elend der Wanderbanker in China.

Die Wanderbanker können nur hoffen, dass sie sich beim Geldzählen nicht an einem Schein verletzen. Bild: ap

Der Treffpunkt der Männer in den abgewetzten Businessanzügen ist ein schäbiger Wohncontainer vor einem Einkaufzentrum am Rande Schanghais. Hin und wieder tritt einer nach draußen und schaut sich um. Gleich hinter dem Parkplatz rascheln Ratten im Müll. Ein Job ist nicht in Sicht. Vier Kollegen hatten Glück. Ein Geldverleiher sammelte sie vor einer Stunde auf. Sie fanden Arbeit, wenigstens für einen Tag. Die Zurückgebliebenen sitzen stumm um einen Wärmestrahler. Einer blättert in einem Chinesisch-Lehrbuch. Sie wollen weiter warten, auch wenn sie bereits ahnen, dass der Tag für sie gelaufen ist.

Die Männer kommen aus Deutschland, England und den USA. Sie sind Finanz-Tagelöhner und illegal in China. Seit Wochen schlagen sie sich durch, irgendwie, aber nie zuvor hatten sie es so schwer wie jetzt. Im düsteren Inneren des Containers bricht Robert Wacken als Erster das Schweigen: "Meine Frau ruft mich jeden Tag an und fragt: Wo bleibt das Geld? Ich weiß ja, dass sie es dringend braucht. Aber ich habe ja selbst kaum noch was."

Der 28-jährige ehemalige Junior Consultant teilt sein Schicksal als Wanderbanker mit vielen anderen. Die Zahl der im Zuge der Finanzmarktkrise entlassenen Banker, die vom Ausland in Chinas boomende Städte ziehen, ist seit Ausbruch der Finanzkrise auf rund 200.000 gestiegen. Bis 2010 werden es wohl drei Millionen sein, die in Chinas Finanzsektor ihr Heil suchen. Die billigen westlichen Finanzfachleute leisten Schichtarbeit an den Bankschaltern der südchinesischen Küste oder verdingen sich tageweise als Geldeintreiber. Obwohl sie die riskantesten und schwierigsten Finanztransaktionen durchführen, werden ihnen Grundrechte verwehrt: Viele von ihnen sind unterbezahlt und ohne Krankenversorgung.

Ein Lohn von umgerechnet zwei bis drei Euro pro Tag reicht auch für einen krisengestählten westlichen Banker kaum zum Überleben. "Solch ein Einkommen reicht für vier Schüsseln gebratene Nudeln pro Tag", lautet das Fazit eines verzweifelten und abgemagerten Bankmanagers aus Düsseldorf. In diesem Lohn sind alle Bonuszahlungen für Überstunden und Feiertagsarbeit einbezogen. Denn diese sind an der Tagesordnung. Die 26-jährige Nadine Remmele, eine frühere Börsenhändlerin, die innerhalb von vier Monaten in neun verschiedenen Kreditinstituten gearbeitet hat, beschreibt ihren Arbeitsalltag so: "Arbeitsbeginn ist jeden Morgen um acht Uhr, Schluss frühestens um 22 Uhr. Um zwölf Uhr mittags geben sie uns eine halbe Stunde Zeit zum Essen und zum Ausruhen, aber nach dem Essen gehen alle wieder direkt an die Arbeit. Der beste Tag ist Sonntag, da müssen wir nur bis 21.30 Uhr arbeiten. Wir sind am Ende unserer Kräfte."

Die meisten der Wanderbanker leben illegal in primitiven Barackenlagern. Laut einer offiziellen Statistik hat jeder zweite keinen Arbeitsvertrag - doch nach Schätzungen liegt die Dunkelziffer viel höher. Daher sind sie der Willkür ihres Arbeitgebers ausgeliefert, der um ihren unsicheren Status weiß - ein Teufelskreis. "Wenn du zu erschöpft bist, um aufzustehen, kannst du einen Tag unentschuldigt fehlen. Aber das sollte man nur im äußersten Notfall machen, denn dann verlierst du deinen Anwesenheits- und Überstundenbonus für den gesamten Monat. Außerdem ziehen sie dir den Lohn für vier volle Tage ab, als Strafmaßnahme." So schildert ein Devisenhändler aus Frankfurt das System, mit dem die Finanzprofis unter Druck gesetzt werden. Durch den Zwang zu Überstunden, Geldbußen für Widerreden oder Nichterscheinen und durch das Zurückhalten von Löhnen haben die chinesischen Manager jedoch ein wirkungsvolles System etabliert, um die durchschnittlich gezahlten Löhne zu drücken. Um die Mitarbeiter an das Unternehmen zu fesseln, werden die Löhne erst nach einer Frist von zwei bis drei Monaten ausgezahlt: Ohne Arbeitsvertrag haben die Betroffenen ohnehin keinen Hebel, um Löhne einzuklagen.

"Ich aß keine Krankenhausmahlzeiten, da sie zu teuer waren. Nach einigen Tagen bekam ich keine Medikamente mehr, da niemand mehr dafür bezahlte." Für Wanderbanker ist es einfach zu teuer, krank zu sein. Die meisten von ihnen sind nicht krankenversichert und begeben sich nur im äußersten Notfall ins Krankenhaus. Die hohen Kosten für medizinische Versorgung und der fehlende Versicherungsschutz führen dazu, dass die meisten entweder sich selbst behandeln oder versuchen, so lange wie möglich durchzuhalten. Entsprechend schlecht ist die Versorgung bei Arbeitsunfällen. Niemand fühlt sich für die Betroffenen zuständig.

Der Investmentbanker Steve Palmer aus New York beispielsweise war nach der Pleite seines früheren Arbeitgebers Lehman Brothers nach Schanghai gezogen, um dort bei einem Geldverleiher zu arbeiten. Als sich eine Schnittwunde an seiner rechten Hand, die er sich beim Geldzählen zugezogen hatte, entzündete, ging er ins Krankenhaus. Da er nicht versichert war, stellte ihn der Arzt vor die Wahl: Entweder 120 Dollar pro Tag für die Behandlung zu zahlen oder sich die Hand amputieren zu lassen. Palmer hatte Glück: Ein anderer Arzt war bereit, seine Hand auf Ratenkredit zu retten. Jetzt kann er wieder Scheine zählen. Zwölf Stunden pro Tag.

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kari

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