Warum Nutztierrassen verschwinden: Rettet die Bentheimer! Esst sie!
Gut 6.000 Nutztierrassen gibt es, doch über 1.000 sind vom Aussterben bedroht. Hauptgrund hierfür ist die industrialisierte Landwirtschaft, die auf leistungsfähige Turbotiere setzt.
Mark Twain war es, der einst die Vielfalt des deutschen Biers mit der der Hühner verglich. Es gebe blonde, braune, rote, ja sogar schwarze, schrieb er entzückt. Inzwischen haben die Biersorten die Hühner abgehängt. Dabei war die Biodiversität, die unzählige Variation des Lebens, jahrhundertelang auch in allen Hühner-, Schweine- und Kuhställen zu Hause.
Die Vielfalt unserer Nutztiere ist Teil des großen Jackpots der Natur. Doch inzwischen sind nicht nur Pandas, Tiger und Berggorillas vom Aussterben bedroht, sondern auch das Renitelo-Rind in Madagaskar, das Bunte Bentheimer Schwein oder das Altenglische Kämpferhuhn. Unsere Nutztiere leiden genauso unter dem Schwund ihres genetischen Pools, auch wenn die Ursachen andere sind als Klimawandel und die Axt im Walde, die den Wildtieren so zusetzen.
Die nackten Zahlen: Die Welternährungsorganisation FAO hat in der dritten Ausgabe ihrer World-Watch-Liste zur Vielfalt der Nutztiere exakt 6.379 Rassen gezählt, darunter natürlich Rinder, Schweine oder Ziegen, aber auch Straußen, Büffel, Yaks und Kamele. 740 Rassen werden als ausgestorben gelistet. 1.335 Rassen, das entspricht 32 Prozent, sind in die Kategorie "high risk of loss" eingestuft, sie sind also unmittelbar vom Aussterben bedroht. Jede Woche verliert die Erde zwei Nutztierrassen. Das Tempo des Niedergangs habe deutlich zugenommen, bilanziert der Bericht, "innerhalb der nächsten zwei Jahrzehnte könnten weitere 2.000 Haustierrassen ausgelöscht werden". Die Hauptursachen für das Aussterben sind der ökonomische Druck und die Selektion auf wenige Leistungsmerkmale. Diese Hochleistungstiere werden inzwischen in jeden Winkel der Erde exportiert, wo sie angestammte Populationen verdrängen.
10.000 Jahre Evolution
Rund 10.000 Jahre hat es gedauert, bis aus den domestizierten 30 Spezies, die der Mensch für sich nutzte, mehr als 6.000 verschiedene Rassen hervorgegangen sind. Sie sind gut an die Lebensbedingungen ihrer Heimat angepasst. Wollschweine trotzen beißender Kälte, die kleinen Hinterwälder-Rinder grasen auf Berghängen, die so steil sind, dass sich die klotzige EU-Normalkuh sofort das Genick brechen würde. Und die alten Hühnerrassen sind genügsame Futterverwerter, die sich vor Raubvögeln schützen, die keine Betreuung brauchen und sich ganz ohne Brutschrank vermehren.
Die unterschiedlichen Klima- und Standortverhältnisse in den landwirtschaftlichen Regionen der Welt schrien geradezu nach Vielfalt. Für jedes Habitat brauchte es andere Tiere, so entstanden regionaltypische Schläge. Aber auch die Mehrfachnutzung erforderte verschiedene Rassen. Rinder lieferten Fleisch, Milch, Häute, Dünger; sie mussten gleichzeitig Kälber aufziehen, Wiesen abweiden, Pflug und Erntewagen ziehen. Schweine lieferten Schinken, Wurst und Fleisch, aber auch Fett zum Schmieren von Wagenrädern. Da passten die alten Rassen mit ihrer dicken Speckschwarte ideal ins Programm.
Schweineschnitzel für alle
Vorbei! Die industrielle Intensivlandwirtschaft will keine Vielfalt und glaubt auf die unterschiedlichen Talente der vielen Rassen verzichten zu können. Zum Einheitsschnitzel gehört das mit Einheitsfutter gemästete Einheitsschwein aus dem Einheitsstall. Die wichtigsten Kennzeichen für Massentierhaltung sind:
- standardisierte Haltungsformen in raum- und bewegungsarmen Stallsystemen, die weitgehend unabhängig sind von Standort, Klima und Umwelt;
- normierte Produkte in Form, Farbe, Größe und Geschmack;
- züchterische Selektion auf ein einziges Merkmal: Leistung! Die Tiere sollen die "maximale Produktmenge pro Zeiteinheit" liefern, also so viele Eier, so viel Milch, so viel Fleisch wie irgend möglich, und dabei das Futter hoch effizient verwerten;
- Monopolisierung der Tierzucht in wenigen Unternehmen;
- moderne Biotechniken zur Massenvermehrung einzelner "Spitzenvererber".
Der Verlust an Vielfalt bei unseren Nutztieren ist unterschiedlich ausgeprägt. Bei den Rindern "erscheint die Situation noch am positivsten", resümiert der von fünf deutschen Instituten vorgelegte Forschungsbericht "Agrobiodiversität entwickeln". Zumindest in den "Mittel- und Hochgebirgslagen können sich noch kleinere Höfe mit regionalen Rinderrassen halten", heißt es dort. Doch von dieser Nische abgesehen, bevölkern in Deutschland nur 4 Rinderrassen 97 Prozent aller Ställe.
Beim Milchvieh ist der weltweite Siegeszug der Holstein-Friesian nicht aufzuhalten. Die Rasse wurde zur großen Milchmaschine, Spitzenkühe liefern im Jahr bis zu 15.000 Liter. Zum Vergleich: 1975 lag die Milchleistung noch bei 4.000 Litern.
Die Konzentration auf wenige Rassen wird durch extreme Inzucht innerhalb dieser Rassen verschärft. Da Bullen über ein reiches Ejakulat verfügen, können mit einer "Portion" bis zu 300 Kühe künstlich besamt werden. Spitzenbullen mit 100.000 Nachkommen sind üblich. Die begehrtesten Väter bringen es auf mehr als eine Million Nachkommen - eine dramatische Einengung der genetischen Variabilität. Die Gefahr, dass sich Erbkrankheiten ausbreiten, wächst, wie das Beispiel der durch Genmutation verursachten Stoffwechselkrankheit "Dumps" (Defizienz der Uridin-Monophosphat-Synthase) zeigt. Dumps ist eine häufige Ursache für das Absterben von Embryonen bei den Holstein-Friesian und geht auf einen US-Spitzenbullen der Fünfzigerjahre zurück, der seine reiche Nachkommenschaft mit der Erbkrankheit belastete. Auch die Immunschwächekrankheit "Blad" (Bovine Leukozyten-Adhäsionsdefizienz) ist, zunächst unbemerkt, durch einen Bullen namens "Osborndale Ivanhoe" weltweit verbreitet worden. Die Kälber gehen an Infektionen ein. Doch solange die Milchleistung stimmt, werden solche Risiken offenbar in Kauf genommen.
Die Folgen der einseitig selektionierten Tiere können in jedem Stall besichtigt werden. Stoffwechselstörungen, Euterentzündungen, geringe Fruchtbarkeit, Bein- und Klauenschäden sind die "Berufskrankheiten" der modernen Turbokuh, die in immer kürzeren Intervallen ausgetauscht und zum Schlachthof gefahren wird.
Die Betriebe reagieren auf die Krankheiten nicht mit dem Wechsel zu robusteren Rassen, sondern mit veränderten Haltungssystemen und mehr Arznei. Schweinen, bei denen das unnatürlich schnelle Wachstum zu Gelenkentzündungen führt, gibt man Schmerzmittel. Hühnern, die vor lauter Eierlegen verrückt werden und sich gegenseitig tothacken, kupiert man die Schnäbel. Dazu gibt's Leistungsförderer, Hormone, Antibiotika, Mineralien, rotes Dämmerlicht. Gern auch Mozart-Sonaten zur Beruhigung überforderter Tiere.
Hähne werden geschreddert
Beim Huhn erreicht die Erosion der Vielfalt ihren Höhepunkt. Von den 71 Rassen, die noch 1987 im deutschen Standardwerk zur Hühnerzucht aufgeführt waren, hat sich nur eine als käfigtaugliche, frühreife, 300 Eier im Jahr garantierende Legefabrik behaupten können: die Rasse der Weißen Leghorn, von der heute alle Hybridlinien weltweit abstammen. Die Zucht dieser Hennen teilen sich auf dem Globus drei Unternehmen. Männliche Tiere werden nach dem Schlüpfen aussortiert und geschreddert, in Deutschland sind das 50 Millionen Küken im Jahr.
Der dramatische Verlust der Vielfalt beim Nutztier ist inzwischen zwar als Problem erkannt, aber eine Trendumkehr nicht in Sicht. Hoffnungsträger sind immerhin die vielen kleinen Bauernhöfe, die sich um die vom Aussterben bedrohten Rassen kümmern. Mit staatlichen Zuschüssen von "250 Euro je Großvieheinheit" wird versucht, das genetische Reservoir von Kaltblutpferden, Glanvieh oder Bergkühen zu bewahren.
In dem 1992 verabschiedeten "Übereinkommen zur biologischen Vielfalt" wird die Erhaltung der Nutztierrassen als ausdrückliches Ziel genannt, dem die mehr als 190 Unterzeichnerstaaten verpflichtet sind. Der kulturelle, ästhetische und kulinarische Wert dieser Vielfalt mag umstritten sein, ihr ökonomischer ist es sicher nicht.
Auch die Agroindustrie weiß, dass sie eines Tages auf die genetische Reservebank der vielen Rassen angewiesen sein könnte. Denn hier schlummern viele Begabungen: Resistenzen gegen Krankheiten oder jene Klauenfestigkeit, die unsere Milchkühe gut gebrauchen könnten. Oder beim Schwein jener hohe intramuskuläre Fettgehalt, den die fettarme, kulinarisch traurige, aber moderne Pietrain-Rasse vermissen lässt. Da bekommen auch Gentech-Ingenieure leuchtende Augen. Im Bericht des Seehofer-Ministeriums zu "tiergenetischen Ressourcen" loben sie die "vielen interessanten Gene" der alten Rassen, die sie "für die Verwendung in zukünftigen Zuchtprogrammen wertvoll machen".
Doch die Erhaltung der alten Rassen bleibt das mühsame Geschäft weniger Idealisten. Die Pfiffigsten unter ihnen verstehen es immerhin, Fleisch oder Käse inklusive Nostalgiebonus gut zu vermarkten. Und eine kleine Schar aufgeklärter Verbraucher ahnt beim Biss in ein Kotelett vom bedrohten Duroc- oder Bentheimer Schwein zumindest, dass da nicht nur genetische Ressourcen, sondern auch schöne Tiere und große Genüsse unwiederbringlich verloren gehen. Ein schlechtes Gewissen müssen sie nicht haben. Nur was genutzt, geschlachtet und gegessen wird, bleibt auf Dauer erhalten.
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