Tschernobyl, BP, Fukushima: Die Katastrophe in Permanenz

Aus Fukushima oder "Deepwater Horizon" lernen? Ja! Wie wir uns in das Ende der Zivilisation zu fügen haben werden.

Letztes Jahr begann der Weltuntergang. Bild: dpa

BERLIN taz | Am Mittwoch vor genau einem Jahr nahm die Katastrophe der BP-Plattform "Deepwater Horizon" im Golf von Mexiko ihren Lauf. Dieser Lauf unterschied sich grundlegend von den in dieser Branche üblichen Katastrophen. Da war, wie etwa 1989 bei der "Exxon Valdez", der Schlamassel auf einen Schlag angerichtet - und vorbei. Heute erinnert man sich an solche Ereignisse wie an schmerzhafte, aber überwundene Rückschläge "irgendwann früher" und "irgendwo anders".

Bei der "Deepwater Horizon" strömte das Öl schon 153 Tage lang weitgehend ungehindert ins Meer. Es war eine Katastrophe neuen Typs, für die es eigentlich auch ein neues Wort geben müsste, handelte es sich doch um eine Katastrophe in Permanenz. Die Betreiberfirma des havarierten japanischen Atomkraftwerks in Fukushima hat unterdessen verkündet, das "Problem" in sechs bis sieben Monaten lösen zu wollen. Die permanenten Katastrophen beginnen also bereits, sich gegenseitig zu überlagern - und uns zu langweilen. Das ist die Signatur unserer Zeit, eine schleichende Eingewöhnung ins Unausweichliche.

Vor einem Jahr wurde ernsthaft darüber debattiert, ob man solche riskanten Tiefsee-Bohrungen, bei denen die Plattform wie eine Stechmücke mit einem zehn Kilometer langen Stachel über dem Ölfeld schwimmt, nicht generell verbieten sollte. Präsident Obama höchstpersönlich erklärte unlängst den Genuss von Krabben aus der Gegend für unbedenklich, die neuen Tourismusprospekte von Louisiana zeigen schneeweiße Strände. Wissenschaftler widersprechen zwar, aber ist das nicht ihr Beruf? Werden nicht Ausflüge nach Pripjat und Tschernobyl angeboten, in den dortigen Flüssen prächtige Karpfen geangelt? Nisten nicht wieder Haubentaucher an kanadischen Küsten? Erstreckt sich heute rechts und links der Autobahnen etwa Steppe, wo noch in den Achtzigerjahren "der Wald nicht sterben" durfte? Eben.

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Tschernobyl ist die größte Katastrophe der Industriegeschichte und wird es hoffentlich auch bleiben. Doch die Energie der Atomkerne ist etwa eine Million Mal stärker als die des üblichen Feuers und hat deshalb immer wieder unerwartete Schäden angerichtet. Was genau 1986 in Tschernobyl passiert ist und wie viele Menschen vor Ort als Liquidatoren eingesetzt waren, wird nach wie vor in Moskau geheim gehalten. Die Zahl der Liquidatoren liegt zwischen einer halben und einer ganzen Million Menschen.

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Laut der Atomenergieagentur IAEO sind nur 62 Strahlentote nachgewiesen. Nach unabhängigen Berechnungen sind es jedoch mehrere hunderttausend bisher. Dabei sind es nicht nur Krebsfälle, die Tschernobyl-Opfer zu beklagen hatten; die Haupttodesursache sind Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Diese werden unter anderem auf das radioaktive Cäsium im Herzmuskel zurückgeführt.

Wir brauchen Öl wie der Junkie Heroin

Inzwischen arbeitet BP mit dem Segen der entsprechenden US-Behörde an mindestens acht weiteren Ölquellen im Golf von Mexiko - unter "rigoros verschärften Sicherheitsbedingungen", versteht sich. Alles, einfach alles hängt in unserer Zivilisation vom Öl ab - nicht nur unsere Mobilität, beinahe jedes Produkt des täglichen Lebens basiert auf diesem Wunderstoff. Er ist das Elixier des Fortschritts und des Wachstums. Er regiert die Welt, und wir wissen das.

Wir brauchen Öl, wie der Junkie sein Heroin braucht, und kein Methadon weit und breit. Immer irrer und abseitiger werden unsere Versuche, an das Zeug zu kommen, aber wir müssen an das Zeug kommen. Wir sind wie jener andere Primat, der Affe, den man damit fängt, dass man ihn mit ausgestreckter Hand durch ein kleines Loch nach dem Köder greifen lässt - hat er einmal zugegriffen, ist der Affe auch in höchster Not außerstande, die Faust wieder zu öffnen, loszulassen, um zu entkommen.

1956 berechnete der legendäre Technokrat und Geologe M. King Hubbert, dass, "wenn gegenwärtige Trends weitergehen", der Höhepunkt der Ölförderung 1995 erreicht werden würde. Dank neuer Technologien wie der "Deepwater Horizon" und neuer Ölvorkommen etwa in ölhaltigen Sandschichten wurde "peak oil" auf 2010 korrigiert, aber so genau weiß das niemand. Fest steht nur, dass wir jetzt unseren sanften Abstieg ins Tal einer ölfreien Zivilisation beginnen müssen - oder weitermachen wie bisher und uns alsbald am Rande einer sehr, sehr, sehr hohen Klippe wiederfinden werden. Spätestens an dieser Stelle drängt sich regelmäßig die rührende Frage auf: "Was muss noch passieren, damit wir umdenken?" Es wird noch viel mehr passieren, und wir werden nicht umdenken. Weil wir die Faust nicht öffnen, vom Errungenen unmöglich lassen können.

Man muss kein Apokalyptiker sein, keine Kassandra und auch kein Al Gore, um das einzusehen. Und doch wiegen wir uns in dem sehr menschlichen Fortschrittsglauben, dass es "irgendwie" doch noch eine angenehme Lösung geben wird, einen alternativen Sockel für unsere Zivilisation. Es wird wahrscheinlich wirklich etwas geben, das man eine "Lösung" nennen könnte. Nur wird sie uns womöglich nicht angenehm sein, weil sie, um eine Lösung zu sein, das Ende der Zivilisation bedeuten muss, wie wir sie kennen. Für die "Katastrophe in Permanenz" gibt es laut Adorno übrigens schon sehr lange ein tröstliches Wort: Geschichte.

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