Atomkatastrophe in Fukushima: Hundert Jahre sauber machen

Drei Monate nach dem Super-GAU ist das öffentliche Interesse gesunken. Experten schätzen, dass Fukushima für Jahrzehnte Katastrophengebiet bleiben wird.

Eines der vielen Löcher im Atomkomplex Fukushima I. Bild: reuters

BERLIN taz | Noch vor einigen Wochen wäre der Bericht eingeschlagen wie eine Bombe: Denn in dem 750-seitigen Report, den die japanische Regierung in der vergangenen Woche der internationalen Atomenergiebehörde vorlegte, steht das Eingeständnis, dass in Fukushima der schlimmste Albtraum der Atomwerker eingetreten sein könnte: "Es besteht die Möglichkeit, dass der Boden des Druckbehälters beschädigt wurde, als ein Teil des geschmolzenen Brennstoffs ausgelaufen ist", heißt es lapidar. Genaue Informationen über die Lage am Reaktor haben auch die japanischen Experten nicht. Aber sie geben zu: Die Mega-Katastrophe ist immer noch eine sehr reale Möglichkeit.

Doch der Aufschrei blieb aus. Drei Monate nach der Havarie in Fukushima ist die Aufmerksamkeit für den möglicherweise folgenschwersten Atomunfall der Geschichte stark gesunken.

Die Politik des Betreibers Tepco und der japanischen Behörden, einerseits eine unübersichtliche Flut von Daten zu veröffentlichen und andererseits sensible Informationen lange zurückzuhalten, zahlt sich aus. Aber trotz aller Desinformation und allem Desinteresse ist deutlich: Der Unfall in Fukushima war noch schwerer als bereits gedacht.

Die Umgebung wurde stärker verseucht als behauptet. Die Situation an den Reaktoren bleibt lebensgefährlich und hochgradig instabil. Und bis zu einem halbwegs glimpflichen Ende der Krise wird mindestens ein Jahrzehnt vergehen.

Klar ist nach den Informationen von Tepco und den Behörden inzwischen, dass die Reaktoren sehr schnell nach dem Erdbeben und dem Tsunami am 11. März ohne Kühlwasser waren und durchbrannten. Die heißen Kerne schmolzen und tropften auf den Boden der Druckbehälter, die den Kern von der Umgebung abschirmen. Auch dieser massive Stahlbehälter wurde anscheinend durchlöchert.

Die äußere Schutzhülle, Rohrleitungen und die Reaktorgebäude sind spätestens seit den Explosionen der ersten Tage kein wirksamer Schutz mehr. Deutlich mehr Radioaktivität als bislang behauptet gelangte in die Umwelt. Und die Hinweise häufen sich, dass die Reaktoren bereits nach dem Erdbeben und schon vor den Tsunamischäden undicht waren - was die Sicherheit auch anderer japanischer AKWs in Frage stellen würde.

Radioaktives Wasser im Keller

Klar ist auch, dass das Tepco-Personal an den Reaktoren kaum arbeiten kann, weil dort hohe, an manchen Stellen tödliche Strahlenbelastungen drohen. Außerdem: Hitze und Dampf, radioaktive Schuttberge und Kellergeschosse, die mit 100.000 Tonnen stark strahlendem Wasser vollgelaufen sind.

Doch viele Fakten sind weiter unklar: Hat sich die radioaktive Lava aus dem Reaktorkern wirklich aus den Druckbehältern in den Schutzmantel geschmolzen? Welche Messgeräte funktionieren überhaupt wieder? Wie viele Menschen arbeiten auf dem Gelände? Und wie geht es weiter?

"Das Wichtigste für die Zukunft ist weiterhin eine stabile Kühlung der Reaktorkerne", sagt ein renommierter Fachmann für Reaktorbau, der aber nicht namentlich genannt werden möchte.

Die Angst der Techniker: Bei einem weiteren Beben könnten die Becken an den Reaktoren mit ihren heißen Brennelementen bersten und ihre hochradioaktive Fracht über das Gelände verteilen.

Stahlstreben zum Abstützen

Nach Informationen der Gesellschaft für Reaktorsicherheit (GRS) sind Arbeiter bereits dabei, die Becken mit Stahlstreben abzustützen. Zugleich muss das Problem mit dem verstrahlten Wasser gelöst werden. Denn die Keller sind fast voll und kräftige Regenschauer in der jetzt beginnenden Taifun-Saison könnten sie zum Überlaufen bringen.

Die stark strahlende Brühe könnte ins Meer laufen und ähnliche Verseuchungen bewirken wie bei einem Leck im System im April, wo die Bucht von Fukushima schwer belastet wurde.

Wie langsam die Entseuchung des Wassers vorangeht, zeigen die Zahlen: Bei einer Kapazität von 700 Kubikmetern Wasser, die pro Tag dekontaminiert werden sollen, braucht es Berechnungen der GRS zufolge etwa 150 Tage, bis das ganze Wasser gereinigt ist.

In der Zwischenzeit wartet die nächste Aufgabe: Die Brennelemente sollten so schnell wie möglich aus den Abklingbecken geholt und sicher gelagert werden. Wie das bei teilweise zerstörten Becken und stark strahlenden Brennstäben gehen soll, weiß niemand.

Normalerweise findet dieser Vorgang unter Wasser statt, jetzt müsste es an der Luft geschehen. Das Problem: Die Rohre aus Edelstahl könnten vom Salz des Meerwassers, das zwischenzeitlich die Reaktoren kühlte, so stark angefressen sein, dass weitere Lecks entstehen.

Vieles spricht gegen einen Sarkophag

Bis das radioaktive Material so weit abkühlt, dass es nicht mehr kocht, dauert das noch mal ein Jahr", sagt der US-Atomexperte Arnold Gundersen. Er erinnert daran, dass nach dem Atomunfall von Harrisburg 1979 erst nach drei Jahren eine Kamera zum geschmolzenen Reaktorkern geschickt wurde.

Einen "Sarkophag" wie in Tschernobyl wird es in Fukushima kaum geben, meinen die Experten. Erstens müssten gleich vier Reaktoren überdacht werden, zweitens ist der Boden durch das viele Wasser möglicherweise instabil, drittens fehlt die Infrastruktur - anders als in Tschernobyl, wo die benachbarten Gebäude und Reaktoren praktisch unberührt geblieben waren. Diskutiert wird nun, die Reaktoren mit Planen oder einer Art Zelt abzudecken, um bei den Arbeiten nicht radioaktive Teilchen aufzuwirbeln.

Der Zeitplan für die Arbeiten ist ebenfalls unklar. Am 17. April hatte Tepco einen detaillierten Plan vorgelegt, um das Chaos in sechs bis neun Monaten in den Griff zu bekommen - eine Vorgabe, die inzwischen wieder kassiert wurde.

"Versuch und Irrtum"

Die Arbeiten dauern auch deshalb so lange, meinen Experten, weil Tepco auf den Strahlenschutz für seine Mitarbeiter achtet und sie ständig austauscht - und nicht wie die sowjetische Führung in Tschernobyl 600.000 Arbeiter und Soldaten verheizt, um in sechs Monaten einen Sarkophag zu bauen.

Der Tepco-Zeitplan zeigt das ganze Dilemma der Rettungsarbeiten und ihrer Akteure: Sie wissen nicht, was in den Blöcken 1 bis 4 geschieht, sie haben nicht die Mittel, die Situation zu verbessern, und keinen strategischen Plan.

Sie mutmaßen, rätseln, basteln sich Hilfsmittel und arbeiten nach dem Prinzip "Versuch und Irrtum". Dennoch will Tepco den Abriss und die Entsorgung aller sechs Reaktoren "in zehn Jahren" geschafft haben.

"Dieser Zeitplan ist sehr ehrgeizig", meint der bereits zitierte deutsche Reaktorexperte. Und für die US-Fachzeitschrift Science ist das große Aufräumen in Fukushima schon wegen der schieren Mengen des nuklearen Materials "eine einzigartige Herausforderung". Und für die brauche man Zeit. "Viele Jahrzehnte, vielleicht sogar ein Jahrhundert".

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