Desaster bei Berliner S-Bahn: Kein guter Zug

Das Desaster der Berliner S-Bahn ist der bislang größte Ausfall in der deutschen Nahverkehrsgeschichte. Schuld ist der Renditedruck des bisherigen Bahnchefs Mehdorn.

Kein Zug weit und breit - zurzeit in Berlin kein ungewohntes Bild. Bild: dpa

BERLIN taz | Donnerstagmorgen, S-Bahnhof Warschauer Straße in Berlin-Friedrichshain. Im einfahrenden S-Bahn-Zug ertönt eine automatische Lautsprecherdurchsage: "Passengers travelling to Schönefeld Airport, please change here to the S 9!" Umsteigen in die S-Bahn-Linie 9? Die fährt doch seit Montag gar nicht mehr bis Schönefeld, stattdessen muss man ersatzweise irgendwohin fahren und irgendeinen Bus nehmen. Wie soll man, hektisch im Berufsverkehr umsteigend, das auf die Schnelle verstehen und dann auch noch den spanischen Touristen erklären, die gerade orientierungslos ihre Koffer über den Bahnsteig schleppen?

Seit Montag herrscht im Berliner Nahverkehr das Chaos. Und schuld daran ist - da sind sich viele Berliner einig - die Deutsche Bahn AG. Denn der gehört die S-Bahn Berlin GmbH, und die musste in den vergangenen Jahren immer höhere Gewinne an den Mutterkonzern abführen, den Bahnchef Hartmut Mehdorn an die Börse bringen wollte. Das ging zu Lasten von Service, Pünktlichkeit, Sauberkeit und offenbar auch Sicherheit.

Berlin-Kaulsdorf, 1. Mai 2009. In dem östlichen Stadtteil entgleist eine mit Fahrgästen besetzte S-Bahn. Nur durch Zufall wird niemand ernsthaft verletzt. Denn der Unfall ereignet sich bei geringer Geschwindigkeit in Bahnhofsnähe. Außerdem springt nur der letzte Waggon aus der Spur und wird ein wenig mitgeschleift. Wäre der erste Wagen entgleist, hätte ihn der restliche Zug drücken und möglicherweise zum Umstürzen bringen können. Ursache des Unfalls ist ein Radbruch an einem S-Bahn-Zug der Baureihe 481/482, paradoxerweise der jüngsten des Unternehmens.

Knapp drei Monate später bricht der S-Bahn-Verkehr in der Hauptstadt zusammen, weil nur noch ein Drittel aller Züge einsatzfähig sind. Den Rest hat die zuständige Aufsichtsbehörde, das Eisenbahn-Bundesamt in Bonn, aus Sicherheitsgründen aus dem Verkehr gezogen. Zuvor hatte die S-Bahn die angeordneten Intervalle für Sonderprüfungen nicht eingehalten, und im Juni war bei einer solchen Prüfung ein schadhaftes Rad entdeckt worden. "Darauf mussten wir reagieren", sagt Behördensprecher Ralph Fischer.

Dass Berlin derzeit kein totales Verkehrschaos erlebt, obwohl die zentrale Ost-West-Verbindung der S-Bahn komplett stillgelegt ist und auf den anderen Linien, wie der S 9 zum Flughafen Schönefeld, nur ein Rumpfverkehr angeboten wird, ist wiederum nur dem Zufall zu verdanken - es sind gerade Ferien. Deshalb sind weniger Menschen unterwegs. Zudem bieten die städtischen Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) mit ihren U-Bahnen, Bussen und Straßenbahnen ein engmaschiges Netz an, das vielen Fahrgästen Ausweichmöglichkeiten gibt. Auch wenn sie dafür Umwege und überfüllte Fahrzeuge in Kauf nehmen müssen.

Das Desaster der Berliner S-Bahn, die frühestens im Dezember wieder den normalen Fahrplan einhalten kann, ist der bislang größte Ausfall in der bundesdeutschen Nahverkehrsgeschichte - es schädigt nicht nur das Image Deutschlands und Berlins bei den Touristen, es schädigt auch den umweltfeundlichen Nahverkehr. Denn alle Berliner, die nun auf ihre Autos und Fahrräder umsteigen, werden sich dreimal überlegen, ob sie wieder S-Bahn-Kunde werden wollen.

Und die Bahn lernt eine alte Weisheit: Wer am falschen Ende spart, zahlt meistens drauf. Schon jetzt zeichnen sich durch das Chaos Millionenverluste bei der S-Bahn ab. Das Chaos bei der S-Bahn hat mehrere Ursachen: Zum einen ist da die Rationalisierungspolitik der S-Bahn, zum anderen sind da fehlerhaft konstruierte Fahrzeuge; wobei die Qualitätsprobleme auch mit dem Kostendruck zusammenhängen können, denen die Hersteller ausgesetzt sind.

Rad- und Sicherheitsprobleme sind bei den Bahnen kein Einzelfall. Vor einem Jahr entgleiste nach einem Radbruch ein ICE in Köln, wobei es nur wegen der geringen Geschwindigkeit des Zuges kein größeres Unglück gab. Die Staatsanwaltschaft Köln stellte jetzt allerdings das Ermittlungsverfahren gegen die DB ein, da das Rad fehlerhaft hergestellt worden sei, was die DB nicht habe erkennen können.

Ein folgenschwerer Unfall ereignete sich Ende Juni dieses Jahres im italienischen Viareggio. Dort starben 24 Menschen, nachdem ein Güterzug mit Flüssiggaswagen nach dem Bruch einer Radsatzwelle entgleiste und explodierte; das Eisenbahnbundesamt ordnete daher die Überprüfung aller mehr als 100.000 Güterwagen in Deutschland an.

Zu einem ernsten Zwischenfall kam es auch am 17. Juli im brandenburgischen Wünsdorf, wie erst jetzt bekannt wurde. Dort war an einem zur Ausfahrt bereitstehenden Regionalzug ein ausgeprägter Riss in der Radscheibe festgestellt worden. Der Doppelstockwagen, ein modernisiertes Fahrzeug aus DDR-Zeiten, wurde sofort abgekoppelt. Nach DB-Angaben sind in Ostdeutschland 85 dieser Wagen im Einsatz. "Wir gehen davon aus, dass keine weiteren Wagen aus dem Betrieb genommen werden müssen", sagte gestern ein Bahnsprecher.

Der Schaden an dem Rad des Regionalzuges sei durch eine von außen zu stark einwirkende Klotzbremse verursacht worden. Bundesweit merkliche Auswirkungen dürfte auch eine Sonderprüfung aller ähnlichen Radtypen nicht haben, sagen Eisenbahner. Solche veralteten Räder, die noch über Klotzbremsen verfügen, seien nicht sehr verbreitet.

Für Heiner Wegner kommt das Desaster bei der S-Bahn nicht überraschend. "Wir haben schon 2005 vor der Katastrophe gewarnt, auf die wir mit dem selbstmörderischen Kurs der DB zusteuern", sagt der Betriebsratschef der S-Bahn. Seinem Unternehmen sei von der DB Stadtverkehr ein völlig überzogener Sparkurs oktroyiert worden. Die S-Bahn musste jährlich immer höhere Gewinne an die DB abführen.

Allein in diesem Jahr sollten es nach Betriebsratsangaben 87,7 Millionen Euro sein, im nächsten sollte es schon ein dreistelliger Millionenbetrag sein. Die Folge des Sparkurses: Werkstätten wurden geschlossen, Ersatzzüge wurden verschrottet, Personal abgebaut - alles um Kosten zu sparen. Allein in den Bereichen Instandhaltung und Wartung habe man rund 300 Arbeitskräfte verloren, so Wegner. "Solche gravierenden Fehler sind nicht von heute auf morgen zu revidieren."

Einen historischen Vergleich bemüht gar Hans-Joachim Kernchen, Berlin-Brandenburg-Chef der Lokführergewerkschaft GDL. "Solche Zustände wie heute gab es bei der S-Bahn nicht einmal nach dem Krieg." Damals seien zwar die Fenster mit Pappe vernagelt worden, aber die Züge seien gefahren. "Heute kommen mir die Tränen." Bei der S-Bahn sei alles dem Prinzip der Profitmaximierung untergeordnet worden. "Die S-Bahn gibt es seit 80 Jahren, und sie galt einmal als vorbildliches Verkehrssystem. Das alles wurde in drei, vier Jahren heruntergewirtschaftet."

Bei der Bahn stoßen solche Vorwürfe auf Widerspruch. Nicht die Rationalisierung habe bei der S-Bahn zu diesen Problemen geführt, sondern fehlerhafte Züge der Bahnindustrie, heißt es immer wieder. Der mittlerweile geschasste S-Bahn-Chef Tobias Heinemann wies noch im Juni verärgert darauf hin, dass es sich bei den Mängeln um kein Wartungsthema seines Unternehmens handele. "Leider weisen die Räder nicht die vom Hersteller zugesagten Eigenschaften auf." Die S-Bahn Berlin hatte in den Jahren 1996 bis 2003 nach eigenen Angaben insgesamt 500 sogenannte Viertelzüge gekauft - für 1,2 Milliarden Euro.

Hersteller- oder Wartungsproblem? Für einen Berliner Verkehrsexperten lastet die Verantwortung auf beiden Schultern. "Was da geliefert wurde, ist eine Katastrophe", sagt er. Andererseits habe die S-Bahn die Situation auch durch den Abbau der Reserve verschärft. "Wenn man immer auf Kante fährt, können selbst kleine Defekte zu großen Problemen führen." Nun fehlten der S-Bahn die Kapazitäten, um die Schritt für Schritt verschärften Vorgaben der Bahnaufsicht zu erfüllen.

Zudem, verrät ein anderer Branchenkenner, sei das Produkt zwischen Lieferant und Kunden auch Verhandlungssache, gerade bei Großaufträgen. "Man bekommt immer das, was man bestellt", meint er. Und bemüht einen Vergleich. Wenn man einen Kleinwagen für 5.000 Euro kaufe, müsse man sich auf regelmäßige Reparaturen einstellen. Offenbar sei aber erwartet worden, für solche Summen einen Premiumwagen aus süddeutscher Produktion erhalten zu können.

Wie lange das Berliner S-Bahn-Chaos noch anhält, ist unklar, aber eines steht für viele in der Hauptstadt fest: Die geplante Bahnprivatisierung, die derzeit nur wegen der Finanz- und Börsenkrise ausgesetzt ist, müsse abgeblasen werden, fordern die Berliner SPD, Grüne, Linke, Umwelt- und Verkehrsverbände. "Der öffentliche Verkehr soll vorrangig für die Menschen da sein, nicht dafür, aus ihm jeden nur möglichen Cent herauszupressen", sagt Michael Gehrmann, Chef des alternativen Verkehrsclubs Deutschland (VCD). Als bundeseigenes Unternehmen habe sich die DB an ihren Töchtern auf Kosten der Sicherheit bereichert. "Das darf unter keinen Umständen so weitergeführt werden."

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