Erfahrungen eines Lehrers: Alles klar mit den Jungs?

Jungs reagieren hochsensibel auf die Verwerfungen der modernen Welt. Darum fliehen sie in virtuelle Welten. Was der Amoklauf von Winnenden mit guter Schule zu tun hat.

Männliches Initiationsritual? Junge beim "Counter Strike" spielen. Bild: ap

"Ja, ich würde mich als Vielspieler bezeichnen." Der 15-jährige dunkelhaarige, wenig sportliche Nicolas (Name geändert, d. Red) überlegt kurz. "Am Wochenende ist es meist so, dass ich fünf, sechs Stunden pro Tag Computer spiele. Meistens schon kurz nach dem Aufstehen. Und dann manchmal bis spät abends." An Schultagen spielt Nicolas meistens erst ab 18 Uhr - nach den Hausaufgaben. Er ist ein guter bis sehr guter Schüler. Und ein unbequemer. Er stellt hohe Ansprüche an die Lehrer, hinterfragt viel und vergisst niemals, was Lehrer ihm zugesagt haben.

Seit dem schrecklichen Amoklauf von Tim K. ist die Republik in Aufruhr. Trotz gegenteiliger Beteuerungen. "Warum?" steht auf den Plakaten und Trauerkarten. Die Gesichter am Rande der Schule sprechen eine deutliche Sprache. Warum das? Warum hier? Auch wenn mancher das Massaker als etwas rational vollkommen Unerklärliches hinstellen mag, lohnt es sich, dort auf Spurensuche zu gehen, wo die Tat sich zutrug: In einer Schule.

Nicolas besucht eine Hauptschule und steht kurz vor der Prüfung. Danach wird er die 10. Klasse besuchen und mittlere Reife machen. Wie Tim K. "Wenn ich kein Internet habe, spiele ich so drei Stunden täglich. Mit Internet hänge ich länger dran, weil man dann mit den Mitspielern kommuniziert. Manchmal auch von abends sechs bis nachts um drei oder später. Dann gehe ich kurz schlafen und dann in die Schule." Und merken das die Eltern nicht? "Ich lebe ja ohnehin nur bei meinem Vater. Der denkt ich schlafe."

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Letzte Woche war Projektprüfung an der Hauptschule. Die Schüler sollen zeigen, dass sie ein selbst gewähltes Thema eigenständig bearbeiten können. Das heißt: Interessen artikulieren, recherchieren, sich informieren, Texte verstehen, eigene Überlegungen anstellen, die Projektergebnisse mit Hilfe von Plakaten, Modellen oder Power Point präsentieren. Eine Gruppe hatte das Thema "Computerspiele". Sie befragte Drittklässler zu ihren Erfahrungen und Einschätzungen: Wie oft spielt ihr? Welche Spiele? Wie fühlt ihr euch dabei? Die Ergebnisse zeigen die Spitze des Eisbergs: 60 Prozent aller Jungs in der 3. Klasse spielen gewaltverherrlichende Computerspiele, teilweise mehrere Stunden am Tag. Oft auch solche, die erst für Jugendliche ab 16 Jahren erhältlich sind. Egal, es gibt ja größere Brüder, ältere Freunde, Väter. Das Ergebnis deckt sich mit dem der repräsentativen Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen.

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"Am liebsten spiele ich im Moment Rollenspiele in Echtzeit", sagt Nicolas. Da hat man einen eigenen Charakter und kann den in einer Story hoch bewegen, über mehrere Levels. Von diesen Spielen gibt es oft mehrere Teile. Es ist wie bei Harry-Potter-Bänden. Man freut sich immer auf den nächsten Teil." Bei "World of Warcraft" spielt beziehungsweise kämpft und tötet man zu mehreren. Bis zu 40 Spieler bilden ein Team. Was reizt ihn daran? "Da kann man mit den anderen Figuren reden." Reden? "Okay, halt chatten. So ungefähr wie am Telefon. Bei anderen Spielen hat man ein Headset auf und dann redet man wirklich mit den Mitspielern und spricht sich ab, wie man den Feind am besten bekämpfen kann." Weiß sein Vater, was er so spielt? "Mein Vater hat sich das mal bei mir angeschaut, hat da aber wenig von verstanden." Nicolas ergänzt: "Es dauert sehr lange, bis man da reinkommt."

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Schule, das ist vor allem Unterricht. Man weiß mittlerweile relativ gesichert, welche Beteiligungsmöglichkeiten Schüler/innen im Kerngeschäft von Schule haben: Statistisch gesehen darf jeder Schüler in einer Stunde nur wenige Sekunden sprechen. Den Rest redet der Lehrer. Die Schulforscher nennen das "lehrerzentriert". Schule in Deutschland, das bedeutet in der weitaus größten Zeit Stoffdruck, Leistungsdruck, Stress für alle Beteiligten. Der Wert eines Menschen scheint sich nach den schulischen Leistungen zu richten.

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Und was ist bei Nicolas mit gewaltorientierten Spielen wie Ego-Shooter? "Ego-Shooter mag ich nicht so besonders. Früher, da hab ich das öfter gespielt. Aus Langeweile. Mit Freunden. Und dann hab ich das auch sehr intensiv gespielt. Da hatte ich immer so ein Zittern in den Fingern. Ein Freund von mir, der hat solche Spiele lange und viel gespielt. Und dann wurde er im realen Leben auch schneller aggressiv, ist gleich ausgetickt, wenn was schieflief." Könnte aus seiner Sicht ein Amoklauf mit solchen gewalttätigen Computerspielen zu tun haben? "Na ja, das liegt eher an den ganzen Problemen, die der Mensch drumherum hat. So etwas entwickelt sich bestimmt über Jahre hinweg. Wenn man immer wieder frustriert ist, gemobbt wird. Ich kann das eigentlich gut verstehen, dass man dann irgendwann austickt. Die denken dann, sie schaffen ihre Probleme aus der Welt, wenn sie diese virtuellen Figuren eliminieren."

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Tim K. kam nach der Grundschule auf die Realschule. Baden-Württemberg gehört zu weltweit 17 Ländern, die Kinder nach der 4. Klasse aufteilen. Das sind Österreich und die sechzehn Bundesländer. Mit zehn Jahren wird entschieden, ob man studieren soll, einen normalen Beruf ergreift oder auf dem Arbeitsmarkt kaum eine Chance hat. Das Ausmaß der Verletzungen und Beschämungen der aussortierten Kinder ist groß. Hauptschullehrer brauchen Jahre, um ihren Schülern wieder Selbstvertrauen und das Zutrauen in die eigene Leistungsfähigkeit zurückzugeben.

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Was ist mit unseren Jungs los? Früher hat man sich auf dem Schulhof geprügelt, heißt es oft. Heute kommt den auffälligen Jungs mit verschiedenen Maßnahmen bei: restriktiven wie einem Trainingsraum für Störer oder einfach Pausenverbot. Auf der anderen Seite gibt es viele Schulen mit gezielten Angeboten für Jungs: Sportangebote, Arbeitskreise nur für Jungen, gezielte Berufswahlangebote. Und doch scheint Schule eine bestimmte Gruppe von Jungen zunehmend zu entgleiten, von Klasse 1 bis 13. Es gibt eine unbändige Sehnsucht nach neuen Initiationsriten, um zu zeigen, dass man kein Kind mehr ist. Klautouren im Supermarkt gehören dazu, schmerzhafte Jump-Aktionen auf Geländern und immer wieder Computerspiele. Wer hart ist und ein Mann sein will, ballert seine virtuellen Feinde ab. Offenbar reagieren viele Jungs besonders sensibel auf die Verwerfungen unserer modernen Welt, die sich in der Schule wie unter einer Lupe zeigen.

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Was denkt der 15-jährige Nicolas? Könnte er sich vorstellen, dass an seiner Schule jemand so verzweifelt ist, dass er mit dem Gedanken spielen könnte, einen Amoklauf zu planen? "An meiner alten Schule schon. Da hatten wir einen Schüler, der wurde immer von allen gehänselt, und der spielte auch total oft solche Spiele. Da könnte ich mir vorstellen, dass der so auf die Schule losgeht. Um sich für all das zu rächen, was die anderen ihm jahrelang angetan haben."

Was würde Nicolas einfallen, wie man so einen Amoklauf verhindern kann? "Da müssen sich die Lehrer und Schulsozialarbeiter mehr um jeden Schüler kümmern. Um die Schüler auch wirklich kennen zu lernen. Und dass niemand benachteiligt oder gehänselt wird. Wer gehänselt wird, kann auch nicht seine Stärken zeigen. Und das ist so eine totale Spirale nach unten. Dann könnte schon so etwas wie ein Amoklauf passieren. Aber wenn man als Schule quasi alle bevorzugt, das heißt zum Beispiel auch mal die aufruft, die stiller sind, und allen die Möglichkeit gibt, seine Stärken zu zeigen, dann spürt jeder, dass er auch zu etwas da ist. Lehrer oder Schulleitung dürfen auch nicht wegsehen, wenn es Ungerechtigkeiten oder Streit gibt."

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Die Schulen schützen? Eingangskontrollen, Chipkarte, Kameras? Jahrzehntelang wachte am Schuleingang von Nicolas Schule ein Hausmeister, mit Sichtkontakt zur Tür und zum Foyer. Den früheren Hausmeister gibt es nicht mehr, seit die Gebäude des Schulzentrums einem privaten Investor zum Zwecke der Sanierung überlassen wurden. Im früheren Hausmeisterzimmer, gleich am Eingang des Schulhauses gelegen, stapelt sich jetzt Elektroschrott.

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Der Amoklauf von Winnenden muss allen klar machen: Es geht nicht um die Bekämpfung der Symptome, nicht um das Waffengesetz oder Chipkarten und Türsteher für Schulen, sondern darum, zu erkennen: Effizienz und Humanität, fachliche Leistungen und eine Schulkultur der Wertschätzung, das sind zwei Seiten derselben Medaille. Schulreform in diesem Lande braucht eine bessere Ausstattung, kleinere Klassen, zusätzliche Lehrer, weniger Stoffhuberei, mehr nachhaltige Lernprozesse. Aber auch einen Systemwechsel zu einer Schule für alle Schüler, in der die unterschiedlichen Lernzugänge, Begabungen, Interessen der Kinder und Jugendlichen kein störendes Element, sondern Ausgangspunkt einer lebendigen Vielfalt und gegenseitigen Wertschätzung ist.

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