Kuren für schwule Männer: Das gewöhnliche Unglück

Die Psychoanalytikerin Ilka Quindeau kritisiert die etablierten Befunde der Psychoanalyse in Bezug auf Homosexualität: Wo keine Krankheit, da auch keine Heilung.

Freud im neuen Jahrtausend: Nicht nur das Design der Liegestätten hat sich der neuen Zeit angepasst, sondern auch die Bewertung sexueller Orientierungen Bild: ap

Therapeutisches für Homosexuelle wird in Fülle angeboten. Selbst von jenen fundamental-christlichen Szenen, von denen die Öffentlichkeit im Frühjahr erst erfuhr, als diese ein "Christival" unter Schirmherrschaft der Familienministerin Ursula von der Leyen veranstalteten, das allerdings in die Kritik geriet, weil dort auch Kuren für schwule Männer anberaumt wurden. Zur Heilung von ihrer Homosexualität. Angeboten von Christenmenschen, die sich nicht als böse Chirurgen der Psyche verstehen, sondern als gute Ratgeber für wirre, fehlgeleitete Seelen.

Summiert man die psychotherapeutische Literatur bis zu den mittleren Siebzigerjahren, so existierte bis dahin kein Ansatz, der Homosexuelle nicht als irgendwie gestört diagnostizierte. Als Menschen, die das erwünschte Ziel - fortpflanzungsorientierte Heterosexualität - verfehlen. Sämtliche Schulen waren sich einig, dass Homosexualität die zu kurierende, also zum Verschwinden zu bringende Abweichung von der gegebenen, nicht zu hinterfragenden Norm sei.

Und in diesen Reigen gehört auch die von Sigmund Freud begründete Psychoanalyse - wenngleich nicht kategoriell, nicht theoretisch, sondern in ihrer Praxis. Martin Dannecker, Mitarbeiter des Frankfurter Instituts für Sexualforschung bis zu dessen Schließung, hat in seinem Befund zum 150. Geburtstag Freuds, des Begründers der Königsdisziplin aller Subjektwissenschaften, die Fantasie von sexueller Normalität überhaupt gründlich dekonstruiert. Sein Resultat umriss weitgehend die längst begonnenen Mühen um die Renaissance der subversiven Tradition des freudianischen Systems: In Freuds "Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie" lebe der erste Abschnitt von der nach wie vor gültigen Beobachtung, dass alle Vorstellungen von sexueller Normalität falsch, da ideologisch geleitet sind. Heterosexualität ist nicht, heutig gesprochen, der Chip, dessen Codierung biologischer Art ist - eine Information, die mit der Pubertät, dem vermeintlichen Zeitraum sexuellen Erwachens, abgerufen wird.

In Wahrheit, so Freud, werde der Mensch mit der Geburt in sexueller Hinsicht polymorph-pervers geprägt. Sein Begehren ist nicht auf ein Geschlecht gerichtet, sondern er ist hungrig gierig auf den Anderen überhaupt. Um Wärme und Berührung nachsuchend. Heterosexualität sei also kein zwangsläufiger, logischer Plan, sondern eine Möglichkeit unter sehr vielen. Dass Freud im zweiten und dritten Abschnitt seiner sexualtheoretischen Abhandlungen plötzlich eine entwicklungspsychologische Normativität destilliert, die sich nur gering von den judäochristlichen Weltbildern unterscheidet, begreift Dannecker als wissenschaftsstrategisch begründet. Vor hundert Jahren, so könne man diesen analytischen Patzer lesen, sei der Druck auf die damals neue Psychoanalyse so immens gewesen, dass man sich nicht mit allen anlegen wollte, den vor hundert Jahren noch viel mächtigeren Kirchen und den Wissenschaften, die im Mainstream auf Regel- und Berechenbarkeit wie Zweckrationalität geeicht waren.

Die Frankfurter Psychoanalytikerin Ilka Quindeau, neben ihrer klinischen Tätigkeit Professorin an der Fachhochschule Frankfurt am Main, stößt sich wie Dannecker (und leider nur wenige andere ihrer Disziplin) an einem psychoanalytischen Lehrgebäude, das dem Sexuellen im Menschen, gerade und vor allem, wo es um sogenannte Abweichungen von der fortpflanzungsorienten Norm geht, eine Art magische, auf das gewöhnlich Heterosexuelle gerichtete Kraft unterstellt. In ihrem jüngst erschienenen Buch "Verführung und Begehren" kritisiert sie vehement die traditionellen Befunde der etablierten Psychoanalyse. Eine Psychoanalytikerin selbst entwirft eine fundamentale Kritik an der Sexualtheorie Freuds, aber bei der Lektüre stellt sich heraus, dass sie hauptsächlich gegen die Interpreten Freuds anschreibt: Das ist mutig.

Sexualität, so Quindeau, sei kein dem Menschen innewohnendes Etwas, das irgendwie und in Phasen unterteilt biologisch ausbreche. Von der Zeit des Säuglings, der oralen und analen Interessen über die Latenzzeit der Kindheit zur Pubertät, wo unerklärlicherweise die allermeisten Menschen plötzlich aufs Rekreatürliche setzen. Der Preis für den Verzicht auf die infantilen Lüste, auf all die sexuellen Suchbewegungen eines jeden Menschen, sei der Lustgewinn der sich im Orgasmus (dem heterosexuellen, wohlgemerkt) einstelle.

Martin Dannecker bemerkte hierzu lakonisch, dass die Idee, Homosexuelle hätten demnach keine Orgasmen, irre genug sei - denn sie haben welche, und sie unterscheiden sich nicht von jenen der Heterosexuellen. Quindeau entwirft nun ein Tableau, das, nebenbei bemerkt, mit den Befunden der Neurobiologie harmoniert: Das Sexuelle liegt im Menschen nicht einfach so geborgen, einen eigenen sexuellen Sinn hat niemand, wenn er oder sie zur Welt kommt. Das Sexuelle ist, so Quindeau, ein Akt der Verführung des hungrigen, suchenden Kinds, im dem erst durch die Pflegehandlungen der Mutter (und immer öfter: Väter) das Sehnen nach ihnen sexuell geweckt wird. Neurobiologen würden aus der Sicht ihrer Disziplin sagen: Eine Gehirnforschung kann es nicht geben, vielmehr müssen immer Gehirne ins Verhältnis gesetzt. Denn ein Gehirn für sich allein ist nicht entwicklungsfähig. Auch ein Mensch wird kein begehrendes, sexuelles Wesen, ist er nicht Teil einer körperlichen Kommunikation gewesen. In den frühesten Tagen erfährt es seine Prägung, seine Einschreibung, die allerdings laut Quindeau eine stete Umschrift erfährt, eine der Nachträglichkeit: Das Ich ist viele andere.

All diese Details betreffen, interessieren womöglich nur eine Community, die sich als Patienten helfend, sie therapierend versteht. Aber Quindeaus Schrift ist für die psychoanalytische Szene eine Lektüre, die auch die Beobachtung von Reimut Reiche, selbst Psychoanalytiker, aufnimmt. Wenn auch vielleicht unbewusst. Die Zeiten sind für Homosexuelle so liberal geworden, äußerte Reiche vor vier Jahren auf einer Konferenz in Zürich, dass sie nicht mehr dort Hilfe suchen müssen, wo sie nicht mit einer Atmosphäre der grundsätzlichen (also theoretischen) Gewogenheit rechnen können.

Lesben und Schwule, so ließe sich sagen, wollen so sein, wie sie sind. Das haben sie, auch im Hinblick auf therapeutische Angebote, jahrzehntelang erkämpft: dass sie nicht infrage gestellt werden - auch in einer Gesellschaft, in der der Glaube an die Natürlichkeit des Heterosexuellen nach wie vor so fest sitzt, wie ein Korken in eine Flasche nur gesteckt sein kann. Das Plädoyer von Quindeau für einen Blickwechsel in ihrer Disziplin gibt der Diskussion um Homosexualität einen neuen Drall: Irgendwie können alle hetero- wie homosexuell sein, das Begehren ist unendlich variierbar, alle haben weibliche wie männliche Anteile.

Die klinisch begründete Annahme von Quindeau ist nicht neu: dass an menschlicher Sexualität nichts natürlich ist; dass das, was für Natur gehalten wird, bereits einen mächtigen gesellschaftlichen Niederschlag enthält; dass in liberalen Verhältnissen ohnehin alle tun, was sie letztlich möchten.

Dass Homosexuelle trotzdem Therapeutisches auf sich nehmen, liegt nahe - es sind die gleichen Gründe, die auch Heterosexuelle um Hilfe nachsuchen lassen: Um die inneren Bilder des eigenen Begehrens zu tilgen von dem, was Schuld, Scham und schlechtes Gewissen stiftet. Christliche Sekten, in den USA wie auch in Deutschland, bestärken diese Bilder eher, sie drohen mit Hölle, Krankheit und Liebesmangel in homosexuellen Beziehungen. Doch auch sie wissen, dass das, was sie unter der Heilung von Schwulen verstehen, zwecklos ist, Gehirnwäsche - Körperverletzung.

Eigentlich, hat man Ilka Quindeaus Vorschläge gelesen, bliebe vor allem dies zu tun: Menschen zu ermutigen, sexuell das zu suchen, was sie gut finden. Was ihnen behagt, was ihnen Lust verspricht. Und dass kein Begehren vollständig befriedigt werden kann, liegt, so verstehen wir sie, auf der Hand. Das Begehren des Säuglings nach Nahrung und Berührung wird unentwegt bedient und frustriert zugleich.

Denn es gibt keine unendliche Mutter - jeder und jede bleibt vom andern getrennt. Das gewöhnliche Unglück aller ist der Naturzustand: Nie gibt es genug, immer ist alles prekär, weil der Appetit sich ändert wie die Kost, die ihn stillt. Die Frage ist nicht, warum es Homosexualität gibt. Sie müsste lauten, mit Freud: Weshalb ist das Heterosexuelle so hegemonial?

LITERATUR: Ilka Quindeau: "Verführung und Begehren. Die psychoanalytische Sexualtheorie nach Freud". Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2007, 324 Seiten, 34 Euro; Martin Dannecker: "Freuds Dekonstruktion der sexuellen Normalität", in: Queer Lectures, Männerschwarmskript, Hamburg 2008; Volkmar Sigusch (Herausgeber): "Sexuelle Störungen und ihre Behandlung". Thieme-Verlag, Stuttgart 2007, 390 Seiten, 79,95 Euro

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