Mythos Gymnasium: Deutschlands schlechteste Schule

Eine Studie vergleicht, was Grundschulen und Gymnasien ihren Schülern beibringen: Gymnasien bekommen das meiste Geld, die teuersten Lehrer, die besten Schüler - aber machen nichts draus.

Kluge Kinder liegen im Schnitt nicht wegen, sondern trotz des Gymnasiums vorne. Bild: dpa

Jürgen Baumert ist ein Meister der Untertreibung. Er hat noch nie viel Aufhebens darum gemacht, dass er einer der bedeutendsten Wissenschaftler der letzten zehn Jahre ist. Der Direktor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung hat den Deutschen die bittere Pille der Pisa-Ergebnisse verabreicht. Er warnte stets vor voreiligen Schlüssen. Er gab den Kultusministern viel Zeit, sich in den Korrelationen und verdeckten Zusammenhängen von Pisa zurechtzufinden. Zugleich erfand Baumert aber Begriffe, die Maßstäbe setzten.

Und nun das. Baumert fällt ein Urteil - unverschlüsselt.

Der Pisaforscher schreibt in seiner neuesten Studie: "Generell ist fraglich, ob die Gymnasien die Förderung der Lesekompetenz als akademische Aufgabe aller Fächer bislang überhaupt entdeckt haben." So klare Sätze sind in Baumerts Wortschatz ohnehin schwer zu finden. Dass er ein Verdikt über eine ganze Schulform formuliert, ist eine kleine Sensation. Der wichtigste deutsche Pisaforscher spricht damit ein Urteil über jene Schulform, die seit Pisa fast völlig aus der Debatte herausgehalten worden war, ja die vom Pisaschock profitiert hat: das Gymnasium.

Die Lieblingslernanstalt der Deutschen schien die beste Fluchtburg vor all den Risikoschülern und funktionalen Analphabeten. Dort lernen die Kinder noch was!, dachten viele. Nun kommt heraus: Die Gymnasien könnens nicht. Sie bekommen das meiste Geld, die teuersten Lehrer, die besten Schüler - und machen nichts draus.

Baumert hat in der Studie, die der taz vorliegt und die in der Zeitschrift für Erziehungswissenschaften erscheint, die Leistung von Grundschulen und Gymnasien verglichen. Das Datenmaterial hat ihm freundlicherweise sein Kollege Rainer Lehmann überlassen. Es ist das beste Abbild sozialer Wirklichkeit, das man für den Vergleich von Primarschule und Penne bekommen kann - Zahlen über die Leistungsentwicklung von Fünft- und Sechstklässlern in Berlin.

Dort ist, wie in keinem anderen Bundesland, nach der vierten Klasse beides möglich: normale Grundschule - oder der Wechsel aufs grundständige Gymnasium ab der fünften Klasse. Sieben Prozent der Berliner bugsieren ihre Kinder vorzeitig aufs Gymnasium. Denn sie hoffen, dass ihre Eleven dort mehr und schneller lernen als ihre Altersgenossen in der Grundschule - eine trügerische Hoffnung.

"In keinem Leistungsbereich sind Förderwirkungen des grundständigen Gymnasiums nachweisbar", schreibt Baumert. "Dies gilt sowohl für den ein- wie den zweijährigen Besuch dieser Einrichtungen." Baumert hat mit zwei statistischen Verfahren die gleichen Ergebnisse erzielen können. Kein Wunder. Ihm lagen die Daten von über 1.700 Probanden aus dem Gymnasium und 3.167 aus der Grundschule vor. Der Max-Planck-Forscher und Mitautoren wie Marko Neumann haben besonders auf die leistungsstarken Schüler in Grundschule und Gymnasium geschaut. Sie wollten wissen: Was macht das Gymnasium aus den Spitzenschülern, die es in Berlin bekommt? Sie waren verblüfft: Denn das Gymnasium bringt wenig zustande. In Mathematik liegen die Elitekinder aus dem Gymnasium nach zwei Jahren eine Nasenspitze vor gleich begabten Grundschülern. Beim Lesen sieht es mau aus. "Der Befund zur differenziellen Förderung der grundständigen Gymnasien mag überraschen", schreiben die Forscher. "Im Vergleich zur Grundschule ist kein differenzieller Fördereffekt des zweijährigen Besuchs eines grundständigen Gymnasiums auf die Lesekompetenz nachweisbar."

Das ist eine Peinlichkeit fürs Gymnasium - auch wenn Baumert es, jetzt wieder ganz Gentleman, freundlicher ausdrückt. "Aus dem Zusammenspiel von Schule und Elternhaus beim Frühübergang [aufs Gymnasium nach der Vierten, Red.] resultiert eine kognitiv, leistungsmäßig, motivational und hinsichtlich häuslicher Ressourcen hoch ausgelesene Schülerschaft", schreibt er. "Sie stellt für die Lehrkräfte eine intellektuelle Herausforderung dar - aber auch ein Erfolgsversprechen für den Unterricht." Genau dieses Erfolgsversprechen können die Studienräte jedoch nicht halten. Es geht ihnen wie Jürgen Klinsmann, der bei den Bayern das beste Spielermaterial zur Verfügung bekam - aber den Platz zu selten als Sieger verließ.

Bei Baumert hört sich das so an. "Die Befunde sprechen eher für einen Entwicklungsprozess der Lesekompetenz, der von den Vorleistungen der Schüler und des Elternhauses lebt und von dem die grundständigen Gymnasien profitieren, ohne ihn selbst aktiv zu fördern." Auf Deutsch: Der Leistungsvorsprung, den die Gymnasiasten vor den Grundschülern haben, hat nichts mit der guten Arbeit der Lehrer oder der Penne zu tun - er stammt allein von der Leistungsfähigkeit der Schüler. Baumert nennt das Ergebnis für die Berliner Gymnasien einen Grund zur Nachdenklichkeit. Und "ein Kompliment für die Grundschule".

Die Ergebnisse von Baumerts Analyse sind nicht nur ein Problem für die Gymnasien. Sie sind auch ein Lehrstück. Denn die Daten über Berlins fünfte und sechste Klassen waren in der sogenannten Elementstudie (Kasten) schon einmal ausgewertet worden. Das war vergangenes Jahr, und der Forscher Rainer Lehmann hatte dabei behauptet, Berlins Grundschulen seien schlecht. "Bei gleicher Ausgangslage lernen Schüler an Gymnasien weitaus mehr als an Grundschulen", behauptete er kess.

Lehmann garnierte seine Interpretation zugleich mit harten Schlägen gegen den Auftraggeber der Studie. Die Berliner Senatsverwaltung für Bildung halte seine Studie zurück, weil sie mit den Ergebnissen nicht glücklich sei. Berlin gehe mit "der sechsjährigen Grundschule einen Sonderweg" mit dieser Annahme, so Lehmann: "Leistungsstarke Schüler werden durch die Klassen fünf und sechs in ihrer Entwicklung nicht gebremst." Eine Aussage, posaunte der Forscher, die nicht haltbar sei.

Mit solchen Sätzen avancierte Lehmann zum Helden. Die Zeit räumte ihm eine ganze Seite Platz frei, damit er seine Sicht der sechsjährigen Grundschule verbreiten konnte. Nicht ganz zufällig erschien das Gespräch just an dem Tag, da Hamburgs grüne Bildungssenatorin Christa Goetsch den Umbau der Grundschule verkündete - die Verlängerung auf sechs Jahre.

Eine Woche später wurde die Elementstudie öffentlich - und mit ihr erste Zweifel an Lehmann. Die Grundschüler lagen im Leistungszuwachs - anders als von Lehmann suggeriert - knapp vor den Gymnasiasten. "Hat der Autor der Studie seine Daten falsch interpretiert?", fragte die Zeit nervös, Berlins Bildungssenator bat Jürgen Baumert, die Daten nachzurechnen.

Aber da war der Zug bereits abgefahren. Lehmann hatte längst Starqualitäten unter Hamburger bildungsbeflissenen Eltern. Wie auf einer Roadshow reiste der Forscher im Wochentakt nach Hamburg. Das Bürgertum johlte in Blankenese über Lehmann wie die Fans auf St. Pauli. Und brüllte die Bildungssenatorin nieder - obwohl an Lehmanns Thesen, wie nun bewiesen ist, wenig richtig war.

Das juckt die Gymnasial-Fans kein bisschen. Auf der Homepage der Initiative "Wir wollen lernen" findet sich noch heute viel Lehmann und kein Wort über Baumert. Kein Wunder, "Wir wollen lernen" organisiert einen Volksentscheid - gegen die sechsjährige Primarschule in Hamburg. Und der Verband der Berliner Oberstudiendirektoren glaubt Baumert schlicht und einfach nicht. "Erfahrungen aus der Praxis" gelten dort mehr als die wissenschaftliche Analyse eines Max-Planck-Direktors. "Kinder sind nach der sechsten Klasse am Gymnasium wesentlich weiter als nach einer sechsjährigen Grundschulzeit", hat Verbandschef Ralf Treptow beobachtet.

Immerhin, Deutschlands oberster Gymnasiallehrer Heinz-Peter Meidinger ahnt, dass nun erstmals seit Pisa das Gymnasium in Erklärungsnot kommen könnte. Der Philologenboss ärgerte sich noch am 1. Mai, es sei unfair, dem Gymnasium Vorwürfe zu machen. "An den empirischen Kerndaten der Elementstudie, wonach die Schüler der grundständigen Gymnasien in Berlin am Ende der 6. Klasse einen Leistungsvorsprung von bis zu zwei Lernjahren haben (…), ändert sich gar nichts", schrieb Meidinger.

Das passt recht gut ins Gymnasialbild, das Jürgen Baumert zeichnet: Die Studienräte lesen wohl, allein ihnen fehlt das Verständnis. Oder anders: Ja, Herr Meidinger, die klugen Kinder haben einen Vorsprung von zwei Lernjahren - aber den haben sie nicht etwa, weil sie Schüler eines Gymnasiums sind, sondern weil sie schlaue Eltern haben. Sie liegen nicht wegen, sondern trotz des Gymnasiums vorne.

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