Ungerechtigkeit als Prinzip von Bildung

CHANCENUNGLEICHHEIT Das Bildungssystem will ungerecht sein. Die in den Parteien grassierende „Chancengerechtigkeit“ ist nur Rhetorik

Christoph Ehmann (SPD) ist Generalsekretär von Campus Europae, einem Verbund europäischer Unis. Er war Asta-Vorsitzender und Bildungsstaatssekretär. Er schrieb unter anderem „Bildungsfinanzierung und soziale Gerechtigkeit“, Bertelsmann 2001 Foto: privat

VON CHRISTOPH EHMANN

„Ein renommierter Gerechtigkeitsgrundsatz lautet, dass die Interessen der am wenigsten Begünstigten vorrangig zu berücksichtigen sind.“ So hat der katholische Sozialethiker Friedhelm Hengsbach jüngst auf die Frage geantwortet, was gerecht sei. Nimmt man Hengsbach zum Maßstab, dann ist das deutsche Bildungssystem aus Prinzip ungerecht. Denn es berücksichtigt die am wenigsten Begünstigten nicht, es verstärkt deren Benachteiligung sogar.

An den programmatischen Aussagen der Parteien lässt sich das kaum mehr ablesen. Alle Parteien werfen mit Begriffen wie Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit um sich. Früher waren sie ein Mittel der politischen Distinktion, Kampfbegriffe. Inzwischen gehören sie zum Vokabular aller politischen Farben. Allerdings: Chancengerechtigkeit bleibt oft Lippenbekenntnis. Die praktische Politik sieht anders aus. Das zeigt exemplarisch die Studienförderung.

Die Bundesrepublik hat zu Zeiten der großen Koalition 1969 mit dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (Bafög) eine Beispiel gebende Studentenförderung geschaffen. Mitte der 70er Jahre erhielten über 40 Prozent der Studierenden Bafög. Helmut Kohl hat die Studienförderung dann beinahe leerlaufen lassen. Zum Ende seiner Amtszeit 1998 lag der Anteil der Bafög-geförderten Studierenden noch bei 13 Prozent. Inzwischen bekommt wieder ein Drittel der Studienanfänger Bafög.

Förderung für Reiche

Doch was als sozialer Fortschritt erscheint, ist nichts anderes als ein Nachholmanöver. Denn bisher profitierten vor allem einkommensstarke Familien von staatlicher Förderung. Wie das?

Bezieht man nicht nur die direkten Zuwendungen an Studenten ein, sondern alle Formen der öffentlichen Zuwendungen wie Kindergeld, kostenlose Mitversicherung in der Krankenkasse oder Steuernachlässe, so ergibt sich ein interessantes Bild. Im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern zeichnet sich die deutsche Studienförderung dadurch aus, dass sie nahezu unabhängig von dem finanziellen Hintergrund der Studierenden erfolgt. Bei Studenten aus armen Elternhäusern macht die staatliche Förderung 57 Prozent des verfügbaren Einkommens aus – bei Studenten aus reichen Elternhäusern 55 Prozent. Das bedeutet: Es gibt gar keine besondere staatliche Bildungsförderung für Studierende aus sozial schwächeren Schichten: Der deutsche Staat fördert alle gleich.

Wie kommt es zu dem eklatanten Widerspruch zwischen der gut gemeinten Programmatik der Parteien und der schlechten Realität? Verschwörungstheorien helfen hier nicht weiter. Es ist davon auszugehen, dass das, was in Programmen geschrieben steht, auch gewollt ist. Das gilt für die Finanzierung der Bildung genau wie für die Ideologie, die hinter ihr steht.

Schule für Ausgegrenzte

Das deutsche Bildungswesen ist chronisch unterfinanziert. Es fehlen, gemessen am OECD-Durchschnitt, rund 30 Milliarden Euro jährlich für Kitas, Schulen und Hochschulen. Es hat aber immer Bereiche gegeben, die stetige Zuwächse erfuhren. Es lohnt sich, diese Bereiche genauer zu betrachten. Zu ihnen gehören etwa die schulischen Ersatzmaßnahmen. Sie sollten jene Schulabgänger aufnehmen – und weiter beschulen, wie es im Pädagogenjargon heißt –, die noch nicht „berufsreif“ oder „ausbildungsfähig“ waren.

Allein 13.000 der zusätzlichen 20.000 Lehrerstellen sind in den Bereich der sogenannten Förderschulen gegangen. Das war ein Zuwachs auf 70.000 Stellen oder 20 Prozent. Diese Stellen wiederum kamen fast ausschließlich den Förderschulen für sogenannte Lernbehinderte zugute, einer Schule für Ausgegrenzte.

Der Anteil der Förderschüler an der Gesamtschülerzahl wuchs bis 2000 stetig und geht seitdem nur langsam zurück. In Berlin etwa gehen nahezu genauso viele SchülerInnen auf eine Förderschule wie auf eine Hauptschule. Der Unterschied ist nur, dass die Kosten pro Kind in der Förderschule doppelt so hoch sind wie in der Hauptschule. Das liegt an den höheren Gehältern der Lehrkräfte und den kleineren Klassenfrequenzen. Dennoch sind die Chancen der Förderschüler auf einen betrieblichen Ausbildungsplatz nicht doppelt so hoch wie die eines Hauptschulabsolventen, nicht einmal gleich hoch.

Das ist auch gar nicht beabsichtigt. Denn jeder in Politik und Bildungsverwaltung weiß, dass Förderschüler nachhaltig stigmatisiert sind. Das gilt ganz besonders, wenn sie ein Abgangs- oder Abschlusszeugnis erhalten, das sie als ehemalige Förderschüler ausweist. Sie sind keine ernsthaften Konkurrenten mehr. Wer also den Anteil der Förderschüler am Altersjahrgang nicht reduziert, sondern anwachsen lässt, der folgt einem Plan. Er will diese stigmatisierten Jugendlichen. Und das lässt man sich auch etwas kosten. Die Finanzierung solcher fälschlicherweise Umwege genannten Maßnahmen, die richtiger Sackgassen heißen müssten, darf viel Geld kosten – wenn sie nur zur nachhaltigen Ausgrenzung dieser Personengruppe, zu ihrem gesicherten Verbleib in der sozialen Unterschicht, im Prekariat führen.

Wir nähern uns jenem Anteil von 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung, der in dieser Situation ist: Perspektivlos. Ich halte es nicht für überzogen, wenn ich sage: Die mit Hilfe des Bildungssystems betriebene Ausgrenzung von 20 Prozent der Bevölkerung ist gewollt. Zumindest wird sie von allen Parteien billigend in Kauf genommen.

Schule fußt noch heute auf Homogenität und dem Willen zum Aussortieren. Das hat etwas Faschistisches

Diese Ausgrenzungsideologie ist kein Zufall, sondern Kennzeichen des Bildungswesens.

Ein Glaubenssatz der deutschen Schule ist der, dass sich in leistungshomogenen Klassen am besten lernen ließe. Das gesamte Schulsystem und seine Instrumente zielen darauf, Leistungshomogenität herzustellen. Bevor Sechsjährige in die Schule dürfen, wurden lange jene zurückgestellt, die als noch nicht schulreif galten. Dafür werden jene vorzeitig eingeschult, die erwarten lassen, die Norm zu erfüllen.

Stellt sich trotz dieser Vorselektion die Einheitlichkeit im Lernfortschritt doch nicht ein, müssen eben einige Kinder schon in der Grundschule eine Klasse wiederholen. Wenn auch diese beiden Instrumente nicht zu lernhomogenen Klassen führen, steht die erwähnte „Förderschule mit dem Förderschwerpunkt Lernen“ zur Verfügung. Manche bezeichnen sie als „viertes Glied“ des mehrgliedrigen Schulsystems. Etwa sechs bis sieben Prozent eines Altersjahrgangs werden in Sonderschulen abgeschoben, in manchen Bundesländern und Altersstufen kommt man auch auf acht Prozent. Zwei Drittel von ihnen sind nicht körperlich behindert, sondern werden behindert gemacht – durch das Schulsystem.

Es musste ein Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen kommen, um uns Deutschen zu erklären, dass die Existenz von Sonderschulen keine Bagatelle, sondern ein eklatanter Verstoß gegen das Menschenrecht auf Bildung ist. Noch heute versuchen nicht wenige Kultusminister, sich mit billigen Tricks vor der schrittweisen Auflösung der Sonderschulen zu drücken.

Das ist kein Wunder, denn das gegliederte Schulwesen selbst folgt der Idee der ungleichen Beschulung gleicher junger Bürger. Die angeblich den Begabungen folgende Aufteilung auf zwei beziehungsweise drei weiterführende Schulen ist Ausdruck eines Ausleseprinzips. Die Lehrer haben dort das „pädagogische“ Instrument des Sitzenlassens – eine Erfahrung, die ein Viertel der Schüler bis zur 10. Klasse machen muss. Eine extrem teure und extrem unwirksame Maßnahme.

Alle diese Homogenisierungsmaßnahmen sollen, glaubt man ihrer zynischen Programmatik, der guten Förderung junger Menschen dienen. Tatsächlich sind sie mit Versagens- und Abwertungserfahrungen verbunden. Sie stigmatisieren junge Menschen und schleudern sie aus den sozialen Beziehungen ihrer bisherigen Gruppe.

Die Expansion des Bildungswesens in Deutschland in der Mitte des 19. Jahrhunderts, also zur Zeit der Industrialisierung, ist von Beginn an mit Sprüchen wie „Aufstieg durch Bildung“ und „Freie Bahn dem Tüchtigen!“ vorangetrieben worden. Negativ formuliert bedeutet das, den „Untüchtigen“ weniger „freie Bahn“ zu lassen und die „Bildung“ für Aufsteiger zu reservieren. Erst im Anschluss an Ralf Dahrendorf wurde diese Terminologie Mitte der 1960er Jahre schrittweise fallen gelassen, weil seit seiner gleichnamigen Streitschrift „Bildung als Bürgerrecht“ galt. Also ein Gut, das allen Menschen zugänglich sein müsse. Die jüngste Kampagne der Bundesministerin für Bildung und Forschung, Annette Schavan, fällt allerdings wiederum zurück auf das verschmockte Motto des „Aufstiegs durch Bildung“.

Wenn Bildung dem Aufstieg dienen soll, dann werden Bildungsprozesse vor allem zu einem Mittel der Selektion, zu einem Ausleseverfahren, das den Anschein der Rationalität und Gerechtigkeit zu erwecken versucht. Wer Bildung unter das Motto „Aufstieg“ stellt, macht die Ausgrenzung zur zwangsläufigen Konsequenz.

Faschistisches Muster

Vielleicht ist das der eigentliche ideologische Kern eines durch und durch selektiven Bildungssystems. Die Bereitschaft zur Ausgrenzung und zur Herstellung von Homogenität ist nämlich etwas völlig anderes, als besondere Begabungen und Fähigkeiten zu fördern. Die Idee des Förderns verlangt die Akzeptanz von Heterogenität und Individualität. Die Idee der Auslese aber entspringt einer Sehnsucht nach Homogenität – und damit derselben Ideologie, die das Heil in der Einheitlichkeit von Volk und Sprache, von Rasse und Religion sieht.

Ausgrenzung ist kein Zufall, sondern Kennzeichen des deutschen Bildungswesens

Das führt zwangsläufig zu „ethnischen Säuberungen“ oder zur Unvereinbarkeit von christlich-jüdischem Abendland und Islam. Vor 100 Jahren galt diese Ausgrenzung, die heute die Muslime trifft, auch noch für Juden. Das hat sich erfreulicherweise geändert. Dennoch zeigt es: Die deutsche Schulpolitik ist noch heute von einer Homogenitätsideologie grundiert. Das ist verbunden mit dem politischen Willen zum Aussortieren und hat – etwas Faschistisches.

Bildung als Menschenrecht

Es gibt keine demokratisch stabile und wirtschaftlich erfolgreiche Nation in Europa, die in vergleichbar würdeloser Art junge Gesellschaftsmitglieder aussondert und an den Rand drängt. Außerhalb Deutschlands ist Bildung nicht vornehmlich ein Ausleseinstrument. In den meisten europäischen Ländern ist Bildung ein Menschenrecht, das für alle gilt: die „Tüchtigen“ wie die „Untüchtigen“, die „Begabten“ wie die „Behinderten“. Aufgabe des Staates ist es nicht, Ungleichheiten zu verstärken, sondern das Menschenrecht auf Bildung so nachhaltig wie möglich zu verwirklichen. Das heißt, dem Einzelnen aktiv Zugänge zu Bildung zu öffnen – und ihn gezielt zu fördern. Oder, um Hengsbach zu zitieren, „die Interessen der am wenigsten Begünstigten vorrangig zu berücksichtigen“.

Es lohnt sich, auf jene Maßnahmen zu blicken, die beim heutigen Bildungsgipfel beschlossen werden. Sie sind Ausdruck eines neuen Faibles für Ungleichheit – bei gleichzeitiger offensiver Nutzung des Gedankens der Chancengerechtigkeit.

Der Bildungsgipfel wird viel Geld aufwenden – um das individuell wenig bildungswirksame Kindergeld zu erhöhen und ein Betreuungsgeld zu bezahlen, das die Abstinenz von frühkindlicher Förderung prämiert. Der Bund ermöglicht es den Ländern, sich von einer fest vereinbarten Investitionsoffensive gegen Bildungsarmut durch Luftbuchungen freizukaufen. Anstatt den doppelten Abi-Jahrgängen Studienplätze bereitzustellen, finanziert man steuerlich vergünstigte Schlafplätze in Hotels.

„Gerechtigkeit ist kein göttlicher Plan“, sagt Hengsbach. „Jede Gesellschaft muss sich darüber verständigen, wie sie gemäß ihren normativen Überzeugungen auf eine bestimmte Situation reagiert.“