10 Jahre zivile Seenotrettung: Menschenrechte über Bord
Sea-Watch rettet seit zehn Jahren Flüchtende in Seenot. Immer wieder erleben ihre Crews Repressionen. Bei ihrer jüngsten Mission fällt ein Schuss.
C lose contact rescue, this is not a drill“, dröhnt es am 26. September kurz vor 3 Uhr morgens aus den Funkgeräten. Auf allen Decks der „Sea-Watch 5“ läuten die Alarmglocken. Dieses Mal ist keine Übung: In nächster Nähe wurde ein Boot in Seenot gesichtet. Die Crewmitglieder springen aus ihren Kojen und eilen auf ihre Positionen, die Verschlüsse von Rettungswesten klicken. Auf dem Achterdeck beziehen alle ihre Plätze. Die RHIBs (Rigid-Hulled Inflatable Boats), die kleinen Beiboote, werden zu Wasser gelassen, auf dem Mutterschiff machen sich die „Puller“ bereit, Menschen von den RHIBs an Bord zu ziehen, wenn die mit Geretteten zurückkehren. Das medizinische Team holt Tragen und Medikamente.
Crewmitglieder fahren mit den RHIBs zu der Stelle, an der das Boot gesichtet wurde. Etwa vierzig Seemeilen vor der libyschen Küste sitzen 66 Geflüchtete und zwei Fahrer in einem überfüllten Fiberglasboot. Die Crew verteilt Rettungswesten, bevor sie die Menschen auf die RHIBs holt.
Zur selben Zeit erreicht Kapitän Sebastian Adler auf der Brücke des Mutterschiffs ein Funkspruch: „Sea-Watch 5, Sea-Watch 5, Libyan Coast Guard, get out my waters now!“ – Lybische Küstenwache hier, raus aus meinen Gewässern! Die Seenotretter:innen sollen nach Norden fahren. Doch die „Sea-Watch 5“ befindet sich in internationalen Gewässern, das libysche Hoheitsgebiet beginnt erst zwölf Seemeilen vor der Küste. Die Brücke antwortet, man führe eine Rettungsaktion durch und werde danach sofort umdrehen. Doch die Befehle über Funk werden lauter und aggressiver.
Kurz bevor alle Menschen an Bord sind, trifft ein graues Patrouillenboot am Ort des Geschehens ein. Ein Suchscheinwerfer schneidet durch die Dunkelheit, trifft das Achterdeck, fällt auf erschöpfte Gesichter. Die Silhouetten der Puller zeichnen sich ab wie Rehe im Scheinwerferlicht. Kurs Nord. Die beiden RHIBs werden aus dem Wasser gezogen. Wieder der Funkspruch: „Get out my waters now, or shooting! – „Raus aus meinen Gewässern, oder wir schießen!“ Die Brücke befiehlt, alle ins Innere des Schiffs zu bringen. Crew und Gerettete drängen sich in die schmalen Gänge des Hangars. Ein Mann bittet panisch um Wasser. Für einen kurzen Moment herrscht Stille. Dann ertönt eine Stimme über Bordfunk: „Ein Schuss ist gefallen.“
Drei Tage nach dem Schuss läuft die „Sea-Watch 5“ in Neapel ein. Die Sonne geht über dem Golf auf, das Meer ist ruhig, als wäre nichts geschehen. 124 Menschen in schwarzen Kapuzenpullovern stehen an Deck und schauen in die Ferne. Für sie ist eine gefährliche Etappe ihrer Flucht vorbei – für die Crew wird es schon bald wieder weitergehen.
Das erste Sea-Watch-Schiff war ein 100 Jahre alter Fischkutter
Seit mehr als zehn Jahren rettet die NGO Sea-Watch Menschen aus Seenot, die versuchen, über das Mittelmeer nach Europa zu kommen. Der Brandenburger Harald Höppner gründete den Verein im Mai 2015. Gemeinsam mit einer Handvoll Mitstreiter:innen kaufte er für 60.000 Euro einen hundert Jahre alten Fischerkutter und fuhr einfach los, um zu tun, was die EU nicht mehr tun wollte.
Kurz zuvor war die italienische Marinemission Mare Nostrum beendet worden. In nur einem Jahr hatte sie mehr als 100.000 fliehende Menschen gerettet. Die unterfinanzierten Nachfolgemissionen unter Führung der EU-Grenzschutzagentur Frontex überließen Flüchtende weitgehend ihrem Schicksal. Laut UNHCR ertranken allein 2016 mindestens 5.096 Menschen im Mittelmeer.
Zehn Jahre später ist Sea-Watch eine der wichtigsten zivilen Seenotrettungsorganisationen der Welt. Seit Gründung hat sie 47.000 Menschen in Seenot unterstützt oder gerettet. Von Beginn an war ihre Arbeit begleitet von Repression. Die Bilder der Irrfahrt von Kapitänin Carola Rackete, die 2019 zwei Wochen lang mit 53 Geretteten an Bord vor der italienischen Küste kreuzte, weil kein Land sie aufnehmen wollte, gingen um die Welt. Noch heute wird die Arbeit der zivilen Seenotrettung von staatlicher Seite erschwert – durch Italien, durch Griechenland, durch die EU. Und durch deren libysche Verbündete, die immer wieder bei Rettungsaktionen intervenieren.
Der Vorfall vom 26. September ist kein Einzelfall. Vermehrt werden Rettungsschiffe von der EU-finanzierten libyschen Küstenwache bedrängt, verfolgt oder angegriffen – meist auf internationaler See. Erst am 24. August hatte die NGO SOS Méditerranée berichtet, gezielt von der libyschen Küstenwache beschossen worden zu sein. Das Rettungsschiff „Ocean Viking“ war mit 87 Geretteten auf dem Weg nach Italien, als ein Patrouillenboot das Feuer eröffnete und es 20 Minuten lang beschoss. Das Schiff wurde schwer beschädigt, inzwischen ermittelt die italienische Staatsanwaltschaft. Sea-Watch selbst dokumentiert 60 „gewalttätige Vorfälle“ durch libysche Akteure seit 2016, unter anderem durch die libysche Küstenwache, darunter mindestens 32 gegen NGO-Schiffe.
Beim jüngsten Einsatz der „Sea-Watch 5“ am 26. September ist es Bootsmann Dan Bebawi, der den Schuss am nächsten miterlebt hat: „Ich habe schon vorher Schusswaffen gesehen, aber es war das erste Mal, dass Schüsse abgefeuert wurden, in sieben Jahren Seenotrettung“, erzählt er einige Stunden später, während er auf dem zugigen Außenbereich des Brückendecks sitzt. Trotz des wenigen Schlafs wirkt er wach. „Ich habe mich auf den Boden der Deckwerkstatt geworfen und gewartet.“ 15 bis 20 Minuten habe er dort gelegen, dann habe ihm die Brücke über Funk gemeldet, dass das libysche Boot zurückgefallen sei und keine Gefahr mehr bestehe. Verletzt wurde glücklicherweise niemand.
Bebawi spricht erkennbar britisches Englisch. Mit sechs zog er mit seiner Familie von Kairo nach Nottingham in England. Dort arbeitete er als Automechaniker, bis er über sein früheres Engagement bei der Walschutzorganisation Sea-Sheperd 2017 zum ersten Mal zu Sea-Watch kam. Seenotrettung sei damals nicht sein Fokus gewesen, erzählt er später. Eigentlich hätte er nur wieder „etwas Sinnvolles auf einem Schiff“ tun wollen. Das Elend der Menschen auf See, das er bei seinem ersten Einsatz miterlebt habe, habe ihn dann jedoch motiviert weiterzumachen. „Auch wenn du es in den Nachrichten siehst, nichts bereitet dich wirklich darauf vor, ein überfülltes Schlauchboot mitten im Nirgendwo anzutreffen.“
Repression habe es Bebawi zufolge bei der Arbeit von Sea-Watch immer gegeben. Nur die Form habe sich verändert. Während es früher, wie im Fall von Kapitänin Carola Rackete, teilweise Wochen dauerte, bis nach einer Rettung ein „sicherer Hafen“ zugewiesen wurde, passiert das heute innerhalb weniger Stunden.
Ende 2022 erließ Italiens postfaschistische Regierungschefin Giorgia Meloni das sogenannte Piantedosi-Dekret. Ein Kernaspekt ist die schnelle Zuweisung eines Hafens. Dieser ist jedoch häufig weit vom Ort der Rettung entfernt und muss sofort angefahren werden, ohne dass weitere Menschen in Not gerettet werden dürfen. Die langen Fahrten kosten die Retter:innen manchmal vier zusätzliche Tage, Zeit, während der weiter Menschen ertrinken. Italiens Innenministerium ließ eine taz-Anfrage nach dem Sinn der weiten Wege bislang unbeantwortet.
Bei Verstoß gegen die italienischen Vorschriften setzt es immer wieder Geldstrafen und die Festsetzung im Hafen. Im März 2024 wurde das Rettungsschiff „Sea-Eye 4“ ganze 60 Tage blockiert – die bisher längste Verwaltungshaft.
An Bord der „Sea-Watch 5“ sind Menschen aus Sudan, Bangladesch, Ägypten, Pakistan, Somalia, Guinea, Südsudan und Eritrea
Für die „Sea-Watch 5“ hätte es dieses Mal schlechter laufen können. Der zugewiesene Hafen Neapel ist immerhin in drei Tagen erreichbar. An Bord sorgt das für spürbare Erleichterung. Nach ihrer ersten Nacht, gehüllt in graue Decken auf dem Achterdeck, sitzen die nun 124 Geretteten in kleinen Gruppen zusammen und trinken gesüßten Tee aus türkisfarbenen Plastikbechern. Quer durch das große Zelt, das die Menschen aus Sudan, Bangladesch, Ägypten, Pakistan, Somalia, Guinea, Südsudan und Eritrea vor Sonne und Regen schützt, sind Wäscheleinen gespannt, auf denen ihre durchnässte Kleidung trocknet. Einige stehen am Heck des Schiffs, das wegen der Farbe seines Lacks an Bord „blaue Lagune“ genannt wird, und blicken zurück Richtung Libyen.
Was die europäische Repression für die Geretteten bedeutet, zeigt das Beispiel des Sudaners Fatih Abdallah. Er gehört zur zweiten Gruppe, die die „Sea-Watch 5“ etwa zwölf Stunden nach der ersten Rettung in der maltesischen Such- und Rettungszone aufliest. Diesmal hatte Italien die zweite Aktion genehmigt, sie lag praktisch auf dem Weg. Abdallah hat ein rundes Gesicht und Augen mit Lachfalten. Er trägt eine Schiebermütze, die meisten Stoppeln seines Barts sind grau. „Einer der anderen hat mir erzählt, dass er bereits 14-mal versucht hat zu fliehen“, sagt Abdallah, während die Menschen um ihn herum Reis mit Linsencurry von ihren Tellern löffeln. Bei ihm sei es erst der zweite Versuch, damit ist er besser dran.
Nicht mal einen Tag vorher sitzt Abdallah noch in einem überfüllten Schlauchboot, das weit vor der maltesischen Küste vom Kurs abgekommen ist. Seit fast drei Tagen sind er und die 57 anderen auf See, das Benzin ist fast aufgebraucht, genau wie das Wasser und die Lebensmittel, erzählt er. Bis nach Malta hätten sie es nicht mehr geschafft, geschweige denn bis zu ihrem eigentlichen Ziel, der italienischen Insel Lampedusa – die rund 100 Seemeilen weiter südwestlich liegt. Malta selbst führt kaum Seenotrettungen durch, Boote von Frontex und anderen europäischen Akteuren retten meist höchstens in Küstennähe.
Etwa 1.000 Euro habe Abdallah für die Fahrt an einen Schlepper bezahlt. Die Preise, von denen die Geretteten berichten, unterscheiden sich stark. Laut Sea-Watch variieren sie nach Herkunftsland und Qualität des Bootes. Der Sitznachbar aus Eritrea berichtet, das Vierfache bezahlt zu haben. Einige Bangladescher erzählen gar von Preisen über 15.000 Euro.
Abdallah ist vor den seit zwei Jahrzehnten währenden Konflikten und der humanitären Krise in Sudan geflohen. In seiner Heimatstadt Nyala sei es nicht mehr sicher gewesen, erzählt er. Den größten Horror des Krieges lässt er aus, doch seine sonst warme Stimme wird hart, wenn er von der Region Darfur spricht, von Straßensperren, von Bewaffneten, die Geld erpressen, davon, dass keines der Krankenhäuser in Sudans viertgrößter Stadt mehr funktionierte, als er floh. Besonders ernst wird er, als er von Libyen spricht. Fünf Jahre habe er dort verbracht. Wohin in Europa er komme, sei ihm eigentlich egal. Nur nach Libyen wolle er auf keinen Fall zurück.
Seit Jahren mehren sich die Berichte über die katastrophalen Zustände vor allem für Schwarze Geflüchtete in Libyen. NGOs und Opfer sprechen von Mord, Folter, Vergewaltigung, Menschenhandel und Zwangsprostitution. Trotzdem hält die EU an ihrer Kooperation mit dem bürgerkriegsgebeutelten Land fest und finanziert weiterhin die libysche Küstenwache. Frontex gibt die Positionen von Geflüchtetenbooten an Libyen weiter.
Offiziell soll Libyen im Auftrag der EU „Migrationsmanagement“ betreiben
Offiziell soll Libyen im Auftrag der EU „Migrationsmanagement“ betreiben und „Schleuserkriminalität“ bekämpfen. Berichte von Journalist:innen, NGOs und den Vereinten Nationen legen jedoch nahe, dass häufig das Gegenteil der Fall ist. Verantwortliche der libyschen Küstenwache pflegten enge Kontakte zu den von Milizen kontrollierten Gefangenenlagern und seien selbst ins Schleusergeschäft involviert, heißt es in einem UN-Bericht von 2023. Laut Dokumentarfilmerin Sara Creta, die seit Jahren zur Lage in Libyen recherchiert, setzen „Schmuggler häufig Bestechungsgelder ein, um sich einen sicheren Durchgang durch die von der libyschen Küstenwache kontrollierten Gebiete zu sichern.“
Um die Mauer durch Frontex und Libyen zu durchbrechen, überlegen sich Schlepper immer neue Methoden. Mit hochwertigen, schnelleren, meist trotzdem wenig seetüchtigen Booten versuchen sie, nachts den Libyern davonzufahren. Die Fahrer warten, bis alle Fliehenden von einem NGO-Schiff gerettet wurden, dann fahren sie das teure Boot wieder zurück nach Libyen.
Eliora Henzler, Einsatzleiterin „Sea-Watch 5“
Nicht nur wegen Praktiken wie diesen behaupten Politiker wie Deutschlands Außenminister Johann Wadephul immer wieder, die Präsenz von NGOs im Mittelmeer führe dazu, dass sich mehr Menschen überhaupt auf den Weg machten – und sie ermögliche damit den „menschenverachtenden Schleuserbanden deren Geschäft“. Mitte des Jahres stellte die Bundesregierung die Förderung für zivile Seenotrettung auf dieser Basis ein.
„Sea-Watch 5“-Einsatzleiterin Eliora Henzler kann mit der Argumentation wenig anfangen: „Der Vorwurf, Seenotrettung sei ein Pullfaktor, der Leute anregen würde zu fliehen, ist kurz gesagt Bullshit“, sagt die 29-Jährige, während hinter ihr die Motoren wummern. „Seenotrettung ist außerdem Pflicht, nur weil Staaten sie nicht wahrnehmen, heißt das nicht, dass das Seerecht sich ändert.“ Henzler unterstreicht ihre Aussage mit einer energischen Handbewegung.
Eine Vielzahl von Studien belegt, was Henzler sagt. Bereits 2017 zeigten Oxford-Forscher:innen, dass die Anwesenheit von Rettungsschiffen im Mittelmeer einen geringen bis keinen Effekt auf die Anzahl der Boote hat. Zuletzt wurde dies durch die Universität Potsdam und das Deutsche Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung bestätigt. Fluchtgründe seien vor allem Kriege, Wirtschaftskrisen und der Klimawandel. Auch führte die stärkere Überwachung der letzten Jahre nicht zu weniger Fluchtversuchen – im Gegenteil: 2023 und 2024 war die Migration übers Mittelmeer so hoch wie zuletzt 2016.
Eliora Henzler trägt einen dunkelblauen Sea-Watch-Overall, ein regenbogenfarbener Aufnäher prangt auf ihrem Rücken. Sie arbeitet seit zwei Jahren bei Sea-Watch, vorher war sie in anderen humanitären Projekten aktiv, unter anderem in Kongo. Mit Blick auf den nach rechts driftenden Diskurs über Migration in Europa gibt Henzler zu bedenken, dass es tatsächlich Probleme gebe, über die es sich zu sprechen lohne, wie etwa die Überforderung von Kommunen, die Geflüchtete aufnehmen, oder warum im Rahmen der Dublin-Regelung die größte Last auf Ankunftsländern wie Italien liege. Sie störe aber, dass Migration generell infrage gestellt werde. „Migration gibt es und hat es schon immer gegeben.“
Dass bei ihrer ersten Fahrt als Einsatzleiterin direkt ein Schuss fällt, überrascht sie nur bedingt. Sie habe zwar gehofft, dass der Angriff auf die „Ocean Viking“ eine Ausnahme bleibe, trotzdem habe sich die Crew auf solche Fälle vorbereitet.
In der Welt sorge es, traurig aber wahr, für mehr Aufmerksamkeit, wenn die libysche Küstenwache sich traue, auf „Weiße“ zu schießen, Angriffe seien jedoch generell nichts Neues: „Dass die libysche Küstenwache Boote mit Migrant:innen beschießt, das gab’s schon vorher und das wird’s auch leider weiter geben.“ In der Situation selbst habe sie keine Angst gehabt, das Adrenalin hilft – das wisse sie aus Erfahrung. Schlimmer sei der Nachhall gewesen, sagt sie halb ernst halb lächelnd: „Wenn es nächstes Mal schlimmer wird, was sollen wir als unbewaffnetes NGO-Schiff mit Schlauchbooten dann tun? Da habe ich mich im Nachhinein weniger mutig gefühlt.“
Viele Geflüchtete werden über Jahre in einem Schwebezustand zwischen Asylantrag, Duldung und Abschiebehaft leben
Während die „Sea-Watch 5“ die Kräne und Lagerhallen in Neapels Hafen passiert, steht eine Gruppe junger Männer an der Reling und blickt auf die Wellen, die sich trapezförmig vom Schiff entfernen. Auf dem Rücken tragen sie gelbe Turnbeutel, die sie von der Crew erhalten haben, um ihre wenigen Habseligkeiten aufzubewahren. Bald werden sie den Senotretter:innen die Hände schütteln und das Schiff über eine schmale Brücke verlassen, auf deren anderen Seite bereits die italienische Polizei wartet – und ihre nächste Reise durch die Wirren der europäischen Bürokratie wird beginnen. Viele werden über Jahre in einem Schwebezustand zwischen Asylantrag, Duldung und Abschiebehaft leben.
Ein graues Corrubia-Patrouillenboot der Guardia di Finanza, der italienischen Grenzpolizei, gesellt sich zu dem mächtigen Rettungsschiff. Dem Boot der libyschen Küstenwache, das die „Sea-Watch 5“ vor drei Tagen bedrängte, sieht es zum Verwechseln ähnlich – denn es stammt von derselben Werft. Die Kanonenboote der Corrubia-Klasse werden im zentralitalienischen Gaeta speziell für die Guardia di Finanza gebaut. Ausgemusterte Exemplare wurden vermehrt im Rahmen von EU-Programmen an die libysche Küstenwache übergeben. Das Schiff, das die „Ocean Viking“ Ende August zwanzig Minuten lang beschoss, stammte aus italienischen Beständen.
Am 15. Oktober verlängerte Deutschland das Bundeswehrmandat für die gemeinsame europäische Militärmission Irini. Der EU-Rat hatte bereits im März entschieden, dass die Operation, die als „Nebenaufgabe“ auch die Ausbildung der libyschen Küstenwache einschließt, bis 2027 weiterlaufen soll. Deutschland hatte zuvor wegen Menschenrechtsbedenken ausgeschlossen, sich an der Schulung zu beteiligen. Die Einwände scheinen nun ausgeräumt – im neuen Antrag taucht der Ausschluss nicht mehr auf.
Auf taz-Anfrage heißt es aus dem Auswärtigen Amt, man nehme das „möglicherweise rechtswidrige Verhalten der libyschen Küstenwache sehr ernst“. Anfang vergangener Woche, kurz vor der Entscheidung des Bundestags, hatte die NGO Mediterranea Saving Humans von erneuten Schüssen auf Geflüchtete durch ein libysches Patroullienboot berichtet. Dabei wurden drei Menschen verletzt – einer davon lebensgefährlich.
Während Politik und Diplomatie um Zuständigkeiten ringen, sitzt Dan Bebawi mit einem alkoholfreien Bier auf dem Achterdeck und schaut auf sein Telefon. Die „Sea-Watch 5“ liegt in der Werft. Es ist bereits dunkel, im Hintergrund lachen die Kolleg:innen, morgen werden die meisten abfahren. Und wie ist es für ihn, unter diesem ständigen politischen Getöse zu arbeiten? Bebawi überlegt. „Was mich ärgert, ist, dass es in der Öffentlichkeit nur wenige gibt, die dieser rechten Quatschgeschichte über Migration etwas entgegensetzen“, sagt er. „Es scheint für die Leute wirklich schwer zu sein, Empathie für Menschen zu entwickeln, die versuchen, das Mittelmeer zu überqueren, und zu verstehen, warum sie es tun.“
Ob ihn das nicht demotiviere? „Auf keinen Fall“, sagt Bebawi. „Eine Sache, die ich vor langer Zeit gelernt habe, ist, wenn Leute wütend auf dich sind, dann machst du wahrscheinlich etwas richtig.“
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